Aktuelles zur Weiterentwicklung der ICF:
Entwurf von Personbezogenen Faktoren
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt seit 2001 in standardisierter Form eine Systematik zur Beschreibung von Gesundheit und mit Gesundheit zusammenhängenden Zuständen zur Verfügung. Als Klassifikation ermöglicht sie eine Darstellung von Krankheitsauswirkungen, wobei nicht nur die Schädigungen des Körpers und die Beeinträchtigungen der Funktionen aufgelistet werden können, sondern auch die daraus resultierenden Auswirkungen auf persönliche Aktivitäten und das Eingebundensein in das gesellschaftliche Leben (Teilhabe/Partizipation). Dies soll in einer möglichst allgemein verständlichen Sprache erfolgen und den jeweiligen Lebenshintergrunde (Kontextfaktoren) einer Person berücksichtigen. Die Beachtung der Kontextfaktoren, die sich aus umweltbezogenen und Personbezogenen Faktoren zusammensetzen, erweitert den Blick auf vorhandene Ressourcen und ist hilfreich beim Erkennen von möglichen Förderfaktoren und Barrieren. Dies gilt sowohl für die in der ICF bereits gelisteten Umweltfaktoren als auch für die noch nicht klassifizierten Personbezogenen Faktoren.
Bei dem Rehabilitationsmedizinischen Kolloquium vom 14.-16. März 2011 in Bochum sowie der parallel dazu stattfindenden 9. ICF Anwenderkonferenz wurden die Personbezogenen Kontextfaktoren in mehreren Beiträgen thematisiert. Prof. Christoph Gutenbrunner (Medizinische Hochschule Hannover) unterstrich in seinem Plenarvortrag „10 Jahre ICF – Stand und Perspektiven“ die Bedeutung Personbezogener Kontextfaktoren. Diese sind im Sinne einer umfassenden Sichtweise auf das Gesundheitsproblem und dessen Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit bei den erforderlichen Interventionen besonders wichtig. Er forderte dazu auf, den wissenschaftlichen Diskurs zu den Konstrukten der ICF verstärkt auch zu den personbezogenen Faktoren zu führen. Dem Anspruch auf umfassende Berücksichtigung der relevanten Begriffe (items) in den Core sets (Listen von ICF-Kategorien, die für Patienten mit einer bestimmten Gesundheitsstörung relevant sind) würde z. B. die bislang fehlende systematische Berücksichtigung der Personbezogenen Faktoren entgegenstehen.
Eine Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) hat nun den Versuch unternommen, sich eine Vorstellung davon zu verschaffen, welche Items dieser bislang von der WHO nicht ausgefüllten Komponente zugeschrieben werden könnten.
Die konzeptionellen Überlegungen sowie der erste Vorschlag dieser Arbeitsgruppe wurden mittlerweile in der Zeitschrift „Das Gesundheitswesen“ veröffentlicht (Gesundheitswesen 2010; 72: 908-916).
Die WHO definiert die Personbezogenen Faktoren (PF) als den speziellen Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen. Sie umfassen Gegebenheiten des Menschen, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder -zustandes sind. Sie sind eine Komponente des bio-psycho-sozialen Modells, das die möglichen Wechselwirkungen dieser Komponenten veranschaulicht. Sie werden benötigt, um dem Anspruch auf eine umfassende Sichtweise auf ein aktuelles Gesundheitsproblem gerecht zu werden.
Ein erklärtes Ziel der ICF ist eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung der Funktionsfähigkeit vor dem Hintergrund der Kontextfaktoren zur Verfügung zu stellen. Die Komponente der Personbezogenen Faktoren ist dabei allerdings bislang der Beliebigkeit überlassen, da diese Komponente nur individuell und somit nicht transparent ausgefüllt und nicht mit einer einheitlichen Sprache belegt werden kann:
„Diese Faktoren können Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung, Ausbildung, Beruf sowie vergangenen oder gegenwärtige Erfahrungen (vergangenen oder gegenwärtige Ereignisse), allgemeine Verhaltensmuster und Charakter, individuelles psychisches Leistungsvermögen und andere Merkmale umfassen, die in ihrer Gesamtheit oder einzeln bei Behinderung auf jeder Ebene eine Rolle spielen können.“
Der von der Arbeitsgruppe der DGSMP vorgelegte Entwurf versucht, eine Systematik zur Verfügung zu stellen. Dabei geht sie davon aus, dass Personbezogene Faktoren überdauernde Eigenschaften und Merkmale eines Menschen sind, die sein Wesen charakterisieren und damit einen möglichen fördernden oder hemmenden Einfluss auf seine Funktionsfähigkeit haben können.
Es wird ein Bogen gespannt von einfachen, vorgegebenen und von der einzelnen Person i.d.R. nicht veränderbaren Merkmalen über die „Konstitution“ einer Person in physischen und in mentalen Dimensionen bis hin zu den komplexeren persönlichen Faktoren, der Art und Weise, mit der jemand sein Leben gestaltet und schließlich der Lebenslage, in der sich eine Person befindet.
Während die Perspektive auf die Komponenten der Funktionsfähigkeit nur eine Aussage dazu erlaubt, ob eine Beeinträchtigung vorliegt oder nicht, bzw. wie schwer die Ausprägung dieser Beeinträchtigung ist, können mit Hilfe der Kontextfaktoren nicht nur negative Einflüsse beschrieben werden in ihrer Wirkung als Barrieren sondern eben auch positive als sog. Förderfaktoren.
Zum Teil finden sich in diesem Vorschlagsentwurf Begriffe, die sich auch in anderen Komponenten der ICF wiederfinden. Aber je nach Zugehörigkeit zu den Komponenten sagen scheinbar gleiche Begrifflichkeiten erkennbar etwas spezifisch anderes aus:
Liegen Schädigungen als Ausdruck des aktuellen Gesundheitsproblems im Sinne von Abweichungen von der „gesunden“ Norm vor, sind diese bei den Körperfunktionen und Körperstrukturen zu klassifizieren (Beispiele: Fingeramputation, Gelenkknorpelschaden, Knochenbruch, Nierenschädigung).
Handelt es sich auf der Ebene der Körperfunktionen und –strukturen um Verhältnisse im Rahmen der Norm oder aber um vorbestehende wie auch zurückliegende Gesundheitszustände, die auf die Funktionsfähigkeit auf jeder Ebene positiv oder negativ einwirken (können), werden diese den personbezogenen Faktoren zugeordnet (Beispiele: durchgemachte Rötelninfektion bei erneuter Schwangerschaft, kräftige Muskulatur, schnelle Reaktionsfähigkeit, sehr gutes Gedächtnis).
Die in dem Entwurf den Items vorangestellten Codes dienen lediglich der besseren Orientierung.
Die Items „nicht näher bezeichnet“ oder „anders bezeichnet“ finden sich natürlich grundsätzlich als eine Art „Restgruppe“ in jeder Aufteilung.
Als i120 wird Geschlecht und als i130 werden „Genetische Faktoren“ aufgeführt.
Im Kapitel 3 werden die „überdauernden mentalen Faktoren einer Person“ aufgelistet. Diese mentalen Merkmale stehen im Gegensatz zu den „mentalen Funktionen“ (b1) nicht mit dem Gesundheitsproblem im Zusammenhang. Sie können aber als Barrieren oder Förderfaktoren Einfluss auf die Funktionsfähigkeit haben (Funktionale Gesundheit).
Die Einzelitems des Blocks „Faktoren der Persönlichkeit“ stellen jeweils ein Kontinuum zwischen zwei Ausprägungen dar. Deshalb kann neben dem Ausprägungsgrad auch der überwiegende Teil der Ausprägung angegeben werden.
Bei den Kognitiven und Mnestischen Faktoren werden die Faktoren der Intelligenz (i350), Kognitive Faktoren (i355) und Mnestische Faktoren (i360) differenziert.
In Kapitel 4 gibt es die Blöcke Einstellungen, Grundkompetenzen und Verhaltensgewohnheiten.
Bei den Einstellungen finden sich die Weltanschauung (i410), die Lebenszufriedenheit (i413), die Einstellung zu Gesundheit und Krankheit (i416), die Einstellung zu Interventionen und technischen Hilfen (i419), die Einstellung zur Arbeit (i422), die Einstellung zu sozialem Leben/zur Gesellschaft (i425) und die Einstellung zu Hilfen (i4289).
Bei den Grundkompetenzen sind die Sozialkompetenz (i430), die Methodenkompetenz (i433), die Selbstkompetenz (Empowerment) (i436), die Handlungskompetenz (i439) und die Medienkompetenz (i442) gelistet.
Bei den Verhaltensgewohnheiten finden sich die Ernährungsgewohnheiten (i450), der Gebrauch von Genussmitteln (i453), die Bewegungsgewohnheiten (i456), die Regenerationsgewohnheiten (i459), Sexualgewohnheiten (i462), Kommunikationsgewohnheiten (i465), Hygienegewohnheiten (i468) und die Gewohnheiten im Umgang mit Geld und materiellen Gütern (i471).
Kapitel 5 beinhaltet die Blöcke „Lebenslage“ und „sozioökonomische/-kulturelle Faktoren“.
Unmittelbare Lebenslage: i510 Einbindung in das direkte familiäre und soziale Umfeld, i515 Wohnsituation, i520 Beschäftigungssituation, i525 Finanzielle Situation.
Sozioökonomischer/ -kultureller Status: i530 Sozioökonomischer Status, i535 Kultureller Status, i540 Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen, i545 Sprachliche Verständigung und i550 Bildungsstand.
Das letzte Kapitel 6 Andere Gesundheitsfaktoren ist mit den Zurückliegenden Krankheiten, Gesundheitsstörungen, Verletzungen oder Traumata (i610), zurückliegenden Interventionen (i615) und den Gesundheitsfaktoren, anders oder nicht benannt (i619) gefüllt, da die ICF diese Faktoren beispielhaft aufführt, auch wenn sie nicht einfach in das theoretische Schema zu passen scheinen.
Die ersten Reaktionen auf diesen Entwurf waren sehr unterschiedlich.
Einerseits wird sehr schnell klar, dass diese Faktoren innerhalb der schutzwürdigen medizinischen Daten nochmals eine besondere, herausgehobene Bedeutung für das Individuum haben (können). Daher ist es auch nachvollziehbar, dass die WHO die Bearbeitung und Entwicklung in diesem Bereich letztlich nicht vollendet hat. Die WHO hat lediglich mit einigen Beispielen Hinweise auf den möglichen Inhalt gegeben und es den Nutzern selbst überlassen, sie mit Leben zu füllen. In den ICF-Praxisleitfäden der BAR (www.bar-frankfurt.de) sind dementsprechend (unsystematisch) solche Personbezogenen Faktoren in den Beispielgraphiken aufgelistet und in ihrer Wirkung als Barriere oder Förderfaktor individuell gekennzeichnet.
Andererseits ist eine große Zustimmung zu diesem Versuch einer Auflistung von Kriterien der Personbezogenen Faktoren zu verzeichnen, da ihr Vorhandensein gemäß dem bio-psycho-sozialen Modell unstrittig ist und sie (selbstverständlich) zum Arbeitsalltag aller in der Rehabilitation Beteiligten gehören.
Die bislang geäußerten Bedenken sind nachvollziehbar und wichtig und die Arbeitsgruppe ist sich auch der grundsätzlichen Möglichkeit einer missbräuchlichen Verwendung von Personbezogenen Faktoren bewusst. Letzteres könnte aber natürlich auch bei allen anderen medizinischen und persönlichen Daten geschehen. Es geht der Arbeitsgruppe der DGSMP jedoch nicht darum, mit ggf. neuen Assessments (Instrumenten und Methoden) regelhaft Personbezogene Faktoren abzufragen bzw. zu bestimmen, sondern darum, dass (wie bisher) erkannte und wichtige Einflussgrößen ggf. standardisiert und geregelt beschrieben werden können.
Der AG geht es um ein Ordnungssystem, das Orientierungshilfe gibt. Die ICF ist kein Anlass, alle möglichen Merkmale eines Menschen zu erfassen und auch zu dokumentieren. Die ICF ist in diesem Zusammenhang nur ein Hilfsmittel, um eine professionelle Aufgabe in eigener Verantwortung sachgerecht zu erfüllen. Die ICF macht keine Vorgaben und verfolgt keine eigenständigen Ziele. Jede Profession ist für ihr Handeln weiterhin allein verantwortlich.
Die UN-Behindertenrechtskonvention stärkt den Blick auf die Wechselwirkung von Beeinträchtigungen mit verschiedenen Barrieren, die den einzelnen Menschen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Die der UN-BRK zugrunde liegende Vorstellung einer inklusiven Gesellschaft verlangt nach gesellschaftlichen Strukturen, die auch die Berücksichtigung Personbezogener Faktoren zulässt. Die Entwicklung der Personbezogenen Faktoren ist kein deutscher Sonderweg, andere Länder haben ihn schon vor uns oder gleichzeitig mit uns beschritten.
Da in der ersten Entwurfsphase keine repräsentative Zusammensetzung der AG realisiert werden konnte, soll eine breitere Konsentierung bei der Weiterentwicklung erfolgen.
Der Sachverständigenrat der Ärzteschaft der BAR (SVR) hat sich mit diesem ersten Entwurf bereits kritisch auseinandergesetzt und wird die weitere Entwicklung auch im Rahmen der Mitarbeit einzelner Mitglieder des SVR in dieser AG konstruktiv begleiten.