Was ist eine Bedarfsermittlung?

Menschen mit Behinderungen sind in ihrer Teilhabe beeinträchtigt. Leistungen zur Teilhabe sollen dabei unterstützen, vorhandene Beeinträchtigungen zu beseitigen bzw. zu mindern. Die Bedarfsermittlung ist der Schlüssel auf dem Weg zu geeigneten Leistungen zur Teilhabe. Bei diesem individuellen Prozess werden Informationen (z. B. Beeinträchtigungen, Lebenssituation, Ziele, Wünsche) zur Prüfung und Konkretisierung eines Bedarfs erhoben, gebündelt und ausgewertet. Mit Blick auf den Menschen sind dabei regelmäßig alle seine Lebensbereiche einzubeziehen (vgl. Anlage). Auch die gemeinsame Entwicklung von Teilhabezielen (z.B. Rückkehr an den Arbeitsplatz, Wiederherstellung der Alltagsmobilität) ist ein zentraler Bestandteil einer Bedarfsermittlung. Nach Abschluss der Bedarfsermittlung können geeignete Leistungen und Unterstützungen ausgewählt werden, die den Bedarf des Menschen decken und ihm bei seiner selbstbestimmten Teilhabe unterstützen.

Die Bedarfsermittlung hat ihren Zweck erfüllt, wenn zielgerichtete und unterstützende Leistungen bewilligt wurden. Ziel der Bedarfsermittlung ist es also, Beeinträchtigungen und Ziele eines Menschen (z.B. Rückkehr in Arbeitsleben, wieder laufen können, Wiedererlangung von Mobilität,) vollständig zu ermitteln, um darauf aufbauend Leistungen bereitstellen zu können.

Was schreibt der Gesetzgeber vor (§§ 13, 14 SGB IX)?

Alle Reha-Träger haben den Bedarf umfassend festzustellen. Zur einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung des individuellen Rehabilitationsbedarfs haben Reha-Träger systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (Instrumente) nach den für sie geltenden Leistungsgesetzen zu verwenden

Die Instrumente sollen eine individuelle und funktionsbezogene Bedarfsermittlung gewährleisten und die Dokumentation und Nachprüfbarkeit der Bedarfsermittlung sichern, indem sie erfassen,

  1. ob eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht
  2. welche Auswirkungen die Behinderung auf die Teilhabe des Leistungsberechtigten hat
  3. welche Ziele mit Leistungen zur Teilhabe erreicht werden sollen und
  4. welche Leistungen im Rahmen einer Prognose zur Erreichung der Ziele voraussichtlich erfolgreich sind.

Entsprechende Konkretisierungen finden sich in der Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess. Für den Bereich der Eingliederungshilfe gelten ergänzende Vorschriften (§§ 117 ff. SGB IX).

Welche Anforderungen werden an die Bedarfsermittlung gestellt?

Umfassend – Den Teilhabebedarf einer Person in seiner Gesamtheit erfassen

Die Bedarfsermittlung erfolgt umfassend, wenn sie den Teilhabebedarf des Menschen mit Behinderungen in ihrer Gesamtheit erfasst hat. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt und betrachtet sie in ihrer gesamten Lebenswelt und ist damit zunächst unabhängig von konkreten Leistungen, Zuständigkeiten und Leistungserbringern.

Funktionsbezogen – Das Bio-psycho-soziale Modell in der Bedarfsermittlung nutzen

Die Bedarfsermittlung ist funktionsbezogen, wenn diese unter Nutzung des bio-psycho-sozialen Modells erfolgt. Dies beinhaltet die Erhebung aller relevanten Informationen zu den Auswirkungen der Gesundheitsprobleme auf die Körperfunktionen und -strukturen sowie im Bereich der Aktivitäten und Teilhabe. Das geschieht unter Einbezug der im Einzelfall wichtigen Kontextfaktoren (z.B. Hilfsmittel, Unterstützung durch Familie, Reha-Motivation) in ihrer Eigenschaft als Förderfaktor oder Barriere und der Wechselwirkungen der Komponenten zueinander.

Individuell – Alle Aktivitäten auf den jeweiligen Menschen ausrichten

Eine individuelle Bedarfsermittlung ist gekennzeichnet durch die Ausrichtung aller Handlungsschritte an der Person. Ausgangspunkt ist das Individuum mit seinen jeweiligen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedarfen. Die Vorstellungen, Wünsche und Ziele des Menschen mit Behinderungen müssen ermittelt und in Planung, Leistungsentscheidung sowie -erbringung einbezogen werden.

Zielorientiert – Bedarfsermittlung an Teilhabezielen ausrichten

Leistungen zur Teilhabe haben das Ziel, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft zu sichern oder wiederherzustellen. Daher sind die jeweiligen Teilhabeziele gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen auszuhandeln, festzulegen und so genau wie möglich zu konkretisieren.

Interdisziplinär – Durch Beteiligung verschiedener Disziplinen den Bedarf passgenau ermitteln

Im Rahmen der umfassenden Bedarfsermittlung ist oft eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich. Dies bedeutet, dass Informationen von verschiedenen Disziplinen eingeholt werden (z.B. Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Verwaltungsfachkräfte) und die Bedarfe schließlich im Austausch miteinander ermittelt, bewertet und festgestellt werden.

Transparent – Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit für alle Beteiligten gewährleisten

Ein transparentes Bedarfsermittlungsverfahren ist für alle Beteiligten verständlich und nachvollziehbar. Das schließt eine auf den Einzelfall angepasste barrierefreie Dokumentation und Kommunikation ein. So werden Unklarheiten, Missverständnisse und Informationsdefizite vermieden. Zugleich stellt Transparenz gegenüber den Leistungsberechtigten die Basis für deren Beteiligung und eine konsensorientierte Bedarfsermittlung und -feststellung dar.

Lebenswelt- und sozialraumorientiert – konkrete Lebensbedingungen und die Umwelt beachten

Da eine "Behinderung" aus der Wechselwirkung von Person und Umwelt resultiert, sind Aspekte der Umwelt- und ihrer individuellen Wirkung als Förderfaktor oder Barriere – von Relevanz. Eine lebensweltbezogene und sozialraumorientierte Bedarfsermittlung berücksichtigt insbesondere die konkreten Lebensbedingungen im Sozialraum sowie die sächliche Umwelt (z.B. Hilfsmittel, Infrastruktur vor Ort) und personale Umwelt (z.B. unterstützende Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde). Erst durch den Einbezug der konkreten Lebenssituation des Menschen mit Behinderungen kann ermittelt werden, welche Leistungen und Hilfen benötigt werden.

Partizipativ – Aktive Beteiligung der Leistungsberechtigten sicherstellen

Eine partizipative Bedarfsermittlung ist gekennzeichnet durch die aktive Beteiligung des Menschen mit Behinderungen am Reha-Prozess. Insbesondere zur Stärkung von Selbstbestimmung und Verwirklichung von Teilhabemöglichkeiten, ist allen Menschen mit Behinderungen Mitbestimmung und Mitwirkung zu ermöglichen.

 

Hinweis: Die ersten vier Grundanforderungen gehen aus dem Gesetz hervor (§ 13,14 SGB IX), die weiteren vier Anforderungen wurden mit der Gemeinsamen Empfehlung (GE) Reha-Prozess vereinbart. Die entsprechenden Erläuterungen stammen aus der GE Reha-Prozess und/oder wurden im Rahmen des b3-Projekts akteursübergreifend von Reha-Trägern und Leistungserbringern erarbeitet und abgestimmt.

Wer führt die Bedarfsermittlung durch?

Die Bedarfsermittlung wird grundsätzlich vom jeweils zuständigen Reha-Träger durchgeführt (z.B. bei einem Schulunfall durch die zuständige Unfallkasse). Dieser zuständige Reha-Träger wird in der Regel leistender Reha-Träger und kann von Amts wegen Fachdienste, Gutachter oder Leistungserbringer hinzuziehen.

Wenn vielschichtige Bedarfe bestehen für die mehrere Reha-Träger zuständig sind oder verschiedene Anträge auf Reha und Teilhabe (z.B. medizinisch und beruflich) vom Leistungsberechtigten bei mehreren Reha-Trägern gestellt wurden, koordiniert und steuert ein Reha-Träger das Verfahren von der Bedarfsermittlung bis zur Abschluss der Leistungserbringung – der leistende Reha-Träger.

Über die Bedarfsermittlung zur Bedarfsfeststellung

Die Bedarfsermittlung umfasst die Ermittlung des individuellen Bedarfs an Teilhabe. Sie setzt spätestens nach Klärung der Zuständigkeit ein. Soweit notwendig werden während der Ermittlung Gespräche geführt, Gutachten erstellt und Arbeitsmittel, wie Tests, Selbstauskunftsbögen und Checklisten eingesetzt, um Informationen zu Zielen und Beeinträchtigungen eines Menschen zu erheben. Durch die Ermittlungen werden die Voraussetzungen geschaffen, geeignete Leistungen und Unterstützungen auszuwählen, um den Bedarf des Einzelnen zu decken.

Die Bedarfsfeststellung bezeichnet die Zusammenfassung der einzelnen Ermittlungen. Wenn mehrere Reha-Träger, Gutachter und Leistungserbringer beteiligt waren, werden hier alle Ergebnisse zusammengeführt. Diese Zusammenfassung bildet die Basis für die Entscheidung über einzelne Leistungen.

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