Diskussion, Chancen und Limitationen

Am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation die globale Ausbreitung des COVID-19 Virus zu einer Pandemie. Die erste Infektionswelle führte im März 2020 zu einem ersten Lockdown in Deutschland. Im Dezember 2021 befindet sich Deutschland in der vierten Corona-Welle. Mit Stand vom 15. Dezember 2021 sind bisher 6.613.730 Coronavirus-Fälle in Deutschland aufgetreten.

Bei einem Teil der Betroffenen können gesundheitliche Langzeitfolgen auftreten, die Auswirkungen auf ihre Teilhabe in Lebensbereichen haben: Sog. Long COVID bzw. Post COVID. Dabei ist für die Betroffenen nicht immer leicht erkennbar, wann die akute Virusinfektion aufhört und die Langzeitfolgen anfangen. Eine Rehabilitation kann Betroffenen dabei helfen, die Folgesymptome zu überwinden und die Teilhabe der Betroffenen im Alltag und Beruf zu stärken.

Hier setzt die Bestandsaufnahme der BAR zu Long COVID in der stationären, medizinischen Rehabilitation an.

Zur allgemeinen Einordnung der Long COVID-Befragung

Die Long COVID-Befragung wurde im Zeitraum vom 13. September 2021 bis 1. Oktober 2021 von der BAR auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) durchgeführt. Ziel der Bestandsaufnahme war, die aktuelle rehabilitative Versorgungslage von Patientinnen und Patienten mit Long COVID möglichst trägerübergreifend, schnell und genau einschätzen zu können.

Die gesetzliche Grundlage für die Befragung durch die BAR basiert auf § 39 SGB IX und hier insbesondere auf § 39 Abs. 2 Nr. 9 SGB IX „Beobachtung und Bewertung der Forschung zur Rehabilitation sowie Durchführung trägerübergreifender Forschungsvorhaben inklusive Evaluationen im Bereich Rehabilitation und Teilhabe“ sowie § 39 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX „Beobachtung der Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger und die regelmäßige Auswertung und Bewertung der Zusammenarbeit mit dem Ziel der Weiterentwicklung der Zusammenarbeit“.

Zur Begründung der Datenerhebung

Die explorative Befragungsstudie versteht sich als wissensgenerierende Versorgungsforschung vor dem Hintergrund einer bisher sonst dünnen Datengrundlage zu Long COVID in der medizinischen Rehabilitation. Weitgehend als gesichert geltende grundlegende Aussagen zur trägerübergreifenden Versorgungslage von Long COVID-Patienten in der medizinischen Rehabilitation sind bisher wenig vorhanden. Trägerspezifisch werden Daten gesammelt, jedoch nicht trägerübergreifend nach einheitlichen Vorgaben zusammengeführt. Die BAR als gemeinsame Plattform der Reha-Träger ist bei Reha-Trägern und Reha-Leistungserbringern gleichermaßen gut vernetzt und daher eine geeignete Stelle, um nähere Informationen zur rehabilitativen Versorgungslage von Patientinnen und Patienten mit Long COVID zu erheben und einzuschätzen, ob Rehabilitationsdienste und -Einrichtungen für Patientinnen und Patienten mit Long COVID in ausreichender Anzahl und Qualität zur Verfügung stehen.

Zur Sicherstellung der methodischen Qualität

Es wurde eine hohe Verfahrenstransparenz bezüglich der Definition der Forschungsfrage, der Methodik, der Datenanalyse und der Veröffentlichung realisiert. Bei der Online-Befragung wurden die Standesregeln der Deutschen Gesellschaft für Online-Forschung e.V. (DGOF) beachtet.

Es ergaben sich keine Hinweise auf systematische Benachteiligung von Reha-Einrichtungen. Alle Reha-Einrichtungen im Reha-Einrichtungsverzeichnis (REV) der BAR hatten die gleiche Chance, an der Befragung teilzunehmen. Dabei wurde ein trägerübergreifender Zugang gewählt: Reha-Einrichtungen aller Reha-Träger konnten an der Befragung teilnehmen. Die Befragung war nicht auf die Reha-Einrichtungen beschränkt, die von einzelnen Reha-Trägern belegt werden.

Die Teilnahme an der Befragung war freiwillig. Die zustande gekommene Stichprobe ist somit keine Zufallsstichprobe, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass Einrichtungen mit bestimmten Eigenschaften eher an der Erhebung teilnahmen als andere, z.B. jene, die Long COVID-Behandlungen anbieten (Positiv-Selektion).

Im bereinigten Datensatz liegen im Ergebnis 338 Fälle zur Auswertung vor. In der Stichprobe geben 173 Einrichtungen (51%) an, Rehabilitationsmaßnahmen für Patienten mit einer Long COVID-(Zusatz-) Diagnose anzubieten. 165 Einrichtungen (49%) verneinen Rehabilitationsmaßnahmen bei Long COVID. Eine mangelnde Vertretung von Einrichtungen, die keine Long COVID Behandlungen in der Rehabilitation durchführen und sich dadurch von der Befragung nicht angesprochen fühlen, weil sie meinen, keinen Erkenntnisbeitrag zur Versorgungslage liefern zu können, kann daher nicht bestätigt werden.

Im Bereich der Rehabilitation fehlen bisher verbindliche fachliche Standards zur Frage der Repräsentativität von Rehabilitationseinrichtungen. Auch wenn keine Aussagen zur Repräsentativität getroffen werden können, wird für eine Einordnung der Stichprobe ein Vergleich mit der Gesamtheit der Reha-Einrichtungen im Reha-Einrichtungsverzeichnis der BAR (REV) vorgenommen. Ferner wird die Stichprobe einer externen Datengrundlage gegenübergestellt, um Aussagen zu etwaiger Schiefe der Verteilung vorzunehmen. In beiden Fällen zeigen sich hohe strukturelle Übereinstimmungen mit der Einrichtungsstruktur der „Grunddaten der Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen“ (Destatis, 2021)  sowie der Gesamtheit der Einrichtungen im REV (N = 1.080).

Die Ausschöpfungsquote liegt bei 31% aller im REV aufgeführten stationären medizinischen Einrichtungen. Auf diese Einrichtungen entfallen insgesamt rund 55.000 Betten, was einem Drittel aller Reha-Betten im REV entspricht. Zum Vergleich: Der Rücklauf bei der Long COVID-Befragung der IKK Südwest lag bei 21% ihrer Versicherten (IKK Südwest, 2021). Die Long COVID-Befragung der Gesundheitsbehörde Public Health London bei Kindern und Jugendlichen gibt eine Rücklaufquote von 13,4% an (Stephanson, T. et al., 2021). Die internationale Kohortenstudie zur Charakterisierung von Long COVID-Betroffenen von Davis et al. (2021), die auch eine Befragung einschließt, weist eine Response-Quote von 52% auf.

Aufgrund der Methodik kann keine Hochrechnung der Anzahl von Long COVID-Rehabilitandinnen und Rehabilitanden erfolgen.

Zur Sicherstellung der inhaltlichen Qualität

Rehabilitationsbezug: Der Versorgungsbereich der Frührehabilitation als Teil der Akutversorgung war aus der Befragung ausgeschlossen. Die Studie kann keine Unterscheidung dahingehend vornehmen, ob es sich bei den Long COVID-Reha-Fällen um Anschlussrehabilitationen (AHB) als Direktverlegung aus dem Akutkrankenhaus, AHB nach vorübergehender häuslicher Entlassung (Rehabeginn: maximal innerhalb von 14 Tage) oder Reha-Fälle im Antragsverfahren nach Wochen oder Monaten der akuten COVID-19-Phase handelt. Es kann sich damit sowohl um Spät Genesene wie auch um Krank Genesene handeln. Die Antragsart sowie die Zeit zwischen Abschluss der Akutbehandlung und Beginn der Rehabilitation wegen Long COVID waren nicht Gegenstand der Befragung.

Definitorische Fragen: Die Befragung bezog sich auf Long COVID im Sinne gesundheitlicher Langzeitfolgen von COVID-19. Darunter fallen, entsprechend der Definition des RKI (Informationen des RKI, Stand 23.07.2021) und des NICE (2020), Anzeichen und Symptome, die sich während oder nach einer COVID-19-Erkrankung entwickeln, längere Zeit anhalten und nicht durch eine anhaltende Infektion (PCR nachgewiesen) oder alternative Diagnose erklärt sind. Zu beachten war auch die im Januar 2021 eingeführte relevante ICD-10-GM-Verschlüsselung: U09.9! Post-COVID-19-Zustand, nicht näher bezeichnet als Sekundärcode. Die Definition der WHO von Long COVID und Post COVID wurde erst am 6. Oktober 2021 veröffentlicht, d.h. nachdem die Befragung beendet war (WHO, 2021). In Anlehnung an die vorgenannten Definitionen wurde Long COVID hier als Containerbegriff ohne Abgrenzung zwischen Long COVID, Post COVID oder postviralem Fatigue aufgefasst. Es war nicht Aufgabe dieser Erhebung, die existierende Diagnoseheterogenität aufzulösen.

Auch wenn die befragten Reha-Einrichtungen auf die Verwendung des Begriffs „Long COVID“ als Langzeitfolgen einer COVID-19-Infektion hingewiesen wurden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass insbesondere im Bereich der psychosomatischen/psychotherapeutischen Rehabilitation auch indirekte Folgen der Pandemie in die Beantwortung miteingeflossen sind.

Zur Einordnung der vorgefundenen Fallzahlen

Long COVID ist in der medizinischen Rehabilitation „angekommen“. In der vorliegenden Bestandsaufnahme werden seit Beginn der Pandemie bis Zur Erhebung im September/Oktober 2021 rund 12.000 Rehabilitationen von Menschen mit einer Long COVID-(Zusatz-)Diagnose konstatiert. Zum Vergleich: Bei der Deutschen Rentenversicherung Bund wurden 2020 rund 1.350 Rehabilitationen im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung über die Rentenversicherung durchgeführt und abgeschlossen (DRV Oldenburg-Bremen, 2021). Die DRV berichtet für alle Rentenversicherungsträger, dass im ersten Halbjahr 2021 ca. 4.000 Rehabilitationen durchgeführt wurden, bei denen einer der Codes in Zusammenhang mit COVID-19 in den Entlassungsberichten aufgeführt wird (DRV Bund, 2021).

Long COVID-Fälle sind nicht meldepflichtig; in Deutschland erfolgt derzeit weder eine bundesweite Erfassung noch eine Dokumentation. Reha-Träger können im Rahmen ihrer Zuständigkeit eine Auswertung der Aufnahme- und Entlassungsdiagnosen vornehmen, seitdem eine ICD-Kodierung für die gesundheitlichen Langzeitfolgen von COVID-19 zur Verfügung steht (ab 1-2021).

Nicht alle Long COVID-Fälle sind rehabilitationsbedürftig, rehabilitationsfähig und/oder haben eine positive Rehabilitationsprognose als Voraussetzung für die Durchführung einer medizinischen Rehabilitation. Für die Bewilligung einer medizinischen Rehabilitation ist eine vorausgegangene COVID-19-Infektion nicht ausreichend, sondern an das Vorliegen von Funktions- und Teilhabestörungen geknüpft (z.B. Alltagseinschränkungen, eine gefährdete Erwerbsfähigkeit). Auch müssen die ambulanten Therapiemöglichkeiten umfänglich ausgeschöpft sein, um eine Rehabilitationsleistung zu erhalten. D.h. ambulante Maßnahmen wurden bereits durchgeführt und haben im Vorfeld der stationären medizinischen Rehabilitation zu keiner Besserung geführt, waren also nicht ausreichend und zielführend. Einer Versichertenumfrage der IKK Südwest (2021) zufolge waren jedoch 66 % der Patienten mit einer Long COVID-Symptomatik mit ihren Spätsymptomen einer Covid-19-Erkrankung nicht beim Arzt. Vielen Betroffenen ist wegen der uneinheitlichen Symptome nicht bewusst, dass sie unter Long COVID leiden.

Auf der Grundlage der bisherigen Daten zu Long COVID, die national und international verfügbar sind, ist eine prospektive Fallzahlschätzung aktuell nicht möglich. Die Fragen - wann Symptome einer Long COVID-Problematik auftreten, zu welchem Zeitpunkt Long COVID / Post COVID diagnostiziert wird, ob und wann sich die Betroffenen zunächst in die ambulante Behandlung bei Niedergelassenen begeben und ob, wann und in welchem Umfang sie ggf. später eine rehabilitative Behandlung in Anspruch nehmen - sind bisher weitgehend ungeklärt.

Fazit und Perspektiven

Long COVID ist eine vergleichsweise „junge“ Krankheit. Es fehlt nach wie vor langjährige Evidenz bezüglich der gesundheitlichen Langzeitfolgen von COVID-19. Rehabilitationseinrichtungen leisten einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der gesundheitlichen Langzeitfolgen von COVID-19. Es wird die Aufgabe künftiger Studien und weiterer Forschung sein, die Datenlage zu Long COVID in der Rehabilitation zu präzisieren, zu aktualisieren und zu erweitern.

Die BAR wird die quantitative Erhebung zu Long COVID in der medizinischen Rehabilitation qualitativ vertiefen.

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