Drei Schritte vor - und ein Blick zurück

Fachgespräch „Wirklich teilhaben“ in Stuttgart

Gemeinsam hatten die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation und die DRV Baden-Württemberg eingeladen und viele kamen. Mit rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war die gemeinsame Veranstaltung „Wirklich teilhaben – drei Schritte vor und keinen zurück“ ausgebucht. Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe in die Praxis umzusetzen ist auch 10 Jahre nach Inkrafttreten des SGB IX erst recht eine Herausforderung für alle Beteiligten. Dieser stellten sich die Veranstalter ganz bewusst.

Geht nicht – gibt’s nicht

„Lösungen müssen dort gesucht werden, wo die Probleme hautnah aufschlagen“, brachte es der Hausherr Hubert Seiter auf den Punkt und mit dem Zusatz „Man muss einfach wollen, dann geht fast alles“ beschrieb er nicht nur das Leitbild der DRV Baden-Württemberg. „Wir diskutieren in unserem Haus anders als früher, wir gehen auf unsere Kundinnen und Kunden zu - der hoheitliche Verwaltungsakt ist Vergangenheit.“ Und mit einem Blick auf das Reha-Budget stellt er fest: „Ansprüche müssen erfüllt werden“. 

Personenzentrierung als Herausforderung 

„Dass es diese Veranstaltung gibt ist auch ein Zeichen der neuen, selbstbewussten BAR“, erklärt Ingo Nürnberger. Zentraler Ausgangspunkt sei für ihn die Behindertenrechts-konvention. Diese bilde nicht nur den philosophischen Überbau, sondern auch den rechtlichen Bezugsrahmen. Der Mensch mit Behinderung stehe im Mittelpunkt, seine Person und sein Bedarf. Für die Reha-Träger, die aus der Massenverwaltung kommen, sei dies eine große Herausforderung. „Nicht die vorgehaltenen Angebote dürfen die Leistung bestimmen“, so Nürnberger, „sondern das, was die Menschen im Einzelfall brauchen und wollen“. 

Behindertenrecht ist Menschenrecht

„Stillstand bedeutet Rückschritt, die Zeit ist reif für wirkliche Teilhabe“. Mit diesen Worten griff der Landesbehindertenbeauftragte von Baden-Württemberg, Gerd Weimer das Motto der Veranstaltung auf. Über zwei Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention sei es an der Zeit, „für Menschen mit Behinderungen die unteilbaren Menschenrechte und Grundrechte in gleicher Weise zu gewährleisten. Es gehe dabei im Kern darum, soziale Autonomie, Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe im Sinne des SGB IX sicher zu stellen. 

In drei Schritten zur Leistung:

Umfassende Bedarfsfeststellung – aller Anfang ist schwer.

Prof. Dr. Katja Nebe eröffnete die Impulsreferate. In ihren Ausführungen beschrieb sie zunächst die Ziele der Bedarfsfeststellung und die Herausforderungen, die sich dabei aus den unterschiedlichen Zielen der Träger im gegliederten System ergeben. Grundlage sei das SGB IX, aber auch untergesetzliche Regelungen, z. B. die einschlägigen Gemeinsamen Empfehlungen. Der herausragende Stellenwert von Teilhabeleistungen ergebe sich aus dem in § 8 SGB IX festgeschriebenen Vorrang von Teilhabeleistungen. Dieser beinhalte eine umfassende Ermittlungs- und Beratungspflicht.

Kooperation und Koordination sind Voraussetzung für eine ganzheitliche Leistungserbringung. Nebe verwies auf die Schwierigkeiten, die sich trotz aller gesetzlichen Vorgaben aus verschiedenen Zuständigkeiten und teilweise langen Verfahren für die Betroffenen ergeben. Diese konnten in der Praxis hinsichtlich der Klärung der entscheidungserheblichen sozialmedizinischen Sachverhalte auch nicht durch die konzeptionellen Vorgaben der Gemeinsamen Empfehlung „Begutachtung“ behoben werden. Ihr Vorschlag: trägerübergreifende Begutachtungsstrukturen, z. B. in Gemeinsamen Servicestellen oder durch einen trägerübergreifenden Sozialmedizinischen Dienst.

Gemeinsame Teilhabeplanung – mehr als eine Idee?

Leistungen verschiedener Leistungsgruppen oder Leistungsträger sollen nach dem individuellen Bedarf, funktionsbezogen, nahtlos, wirksam, zügig und einheitlich festgestellt und erbracht werden – soweit die Theorie des SGB IX. In seinem Referat zog Prof. Dr. Wolfgang Seger eine eher ernüchternde Bilanz: Gemeinsame Teilhabeplanung scheitert an einer Vielzahl unterschiedlicher Bedarfsfeststellungsverfahren, Mangel an trägerübergreifend abgestimmten Konzepten und Prozessen, fehlender Ausrichtung an der ICF.

Wie könnte eine Lösung aussehen? Ein denkbarer struktureller Lösungsansatz könnte nach Seger ein trägerübergreifender gemeinsamer Dienstleister sein, der die verschiedenen gesetzlichen Sozialversicherungen wie ein einziges Unternehmen betrachtet. Weitere Optionen: Konzentration der Zuständigkeit auf einen Träger im Sinne einer treuhänderischen Durchführungsübernahme oder Ausbau der Gemeinsamen Servicestellen als selbstständige Organisationseinheiten.

Wo bleibt das Wunsch- und Wahlrecht?

Von der Moderatorin Claudia Zinke als die „streitbare Präsidentin des VdK“ angekündigt, vertrat Ulrike Mascher die Position der betroffenen Menschen im Prozess der Teilhabeplanung. Personenzentrierung verstanden als Prinzip, wie der individuelle Hilfebedarf gemeinsam mit der/dem Leistungsberechtigten ermittelt und ein passendes Hilfepaket organisiert wird – das ist für sie der richtige Weg. Wunsch- und Wahlrechte als Selbstbestimmungsrechte im Reha-Prozess seien die geeigneten Instrumente, damit der Personenzentrierte Ansatz gelingen kann. Selbstbestimmung beinhalte aber auch Eigenverantwortung und aktive Mitwirkung.

Wie sieht die Praxis aus? Erfahrungen des VdK zeigen, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Sozialverwaltungen mit selbstbewussten, informierten Versicherten häufig schwer tun. Wunsch- und Wahlrechte werden nur berücksichtigt, wenn Versicherte sie einfordern. Bei der Entscheidung stehen Kostenfaktoren im Vordergrund. Dabei stellt die Beachtung der Wünsche und des Wahlrechts eine wesentliche Grundlage und die Voraussetzung für eine nachhaltig erfolgreiche Rehabilitation dar. „Im Lichte der Menschen- und Freiheitsrechte der UN-Behindertenrechtskonvention“, so Mascher, „stehen Reha-Träger in einem weit größeren Begründungszwang, wenn sie gegen berechtigte Wünsche entscheiden“.

Arbeitsforen

Am Nachmittag war Praxis angesagt. In drei Arbeitsforen wurden die Themen aus den Impulsreferaten des Vormittags weitergeführt. Die Aufgabe für alle Beteiligten war dabei klar: Die inhaltliche Diskussion vertiefen und Möglichkeiten für die praktische Umsetzung erörtern. Eingeleitet wurden die Foren jeweils durch ein Einführungsreferat. Themen waren:

  • Schrittweise vom Bedarf zur Leistung, 
  • Teilhabeplanung konkret: wie geht’s? 
  • Mit Wunsch- und Wahlrechten erfolgreich teilhaben, 

 

Forum 1

Dr. Heidrun Metzler führte in das Forum 1 ein. Sie benannte drei wesentliche Eigenschaften von Bedarf: zielgerichtet, lebensweltlich verankert und individuell. Was dies konkret bedeutet und wie sich Bedarf im zeitlichen Verlauf dynamisch ändern kann, machte sie an Praxisbeispielen fest. Sie forderte dazu auf, nicht zuerst in Leistungskatalogen zu denken, sondern aus einer individuellen – oft lebensweltbezogenen – Sicht des Problems die Betroffenen als Experten in eigener Sache selbst Lösungen entwickeln zu lassen, die dann in Leistungen „übersetzt“ werden könnten. 

In der Diskussion fanden die vorgetragenen Statements Zustimmung. Es wurde die Gefahr gesehen, dass Menschen mit Behinderung zu schnell zu einem „Fall“ werden und als „Akte“ enden. Sensibilität sei notwendig, die durch Schulung entwickelt werden kann. Casemanagement-Angebote könnten den individuellen Ansatz fördern. Hierzu fehle im „Massengeschäft“ oft die Zeit. Die Gemeinsame Servicestelle könnte dieses Angebot bereithalten. Frühzeitige Situationsanalyse, Feststellung der Bedarfe und Festlegung der Ziele mit den betroffenen Menschen sowie fundierte Beratung über mögliche Teilhabeleistungen seien die Schlüssel zur Umsetzung von individuellen Bedarfen in individuelle Leistungen.


Forum 2

Mit mehreren Praxisbeispielen führte Helmut Hellstern in das Thema des Forums ein. Dabei kam der Gemeinsamen Servicestelle eine zentrale Bedeutung zu. Das Wissen und die fachliche Kompetenz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis hin zu Mediatoren-Fähigkeiten bei ausreichender Zeit seien die Erfolgsfaktoren für eine optimale Teilhabeplanung. In dem erforderlichen Netzwerk, insbesondere den runden Tischen der Reha-Träger, müssten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit entsprechender Entscheidungsbefugnis vertreten sein. 

Ergebnis der anschließenden Diskussion war das Modell einer Anlaufstelle mit umfassenden Koordinationsaufgaben. Dieser „Lotse“ brauche das Vertrauen aller beteiligten Träger und müsse deren Entscheidungskompetenz respektieren. Voraussetzung sei, dass alle Beteiligten die Hilfe eines Lotsen wünschen. Ein weiteres erfolgversprechendes Instrument könne auch ein „runder Tisch“ sein, bei dem die Interessen der unterschiedlichen Akteure zusammenfließen. Dem betroffenen Menschen als einem zentralen Player sei mit Respekt zu begegnen. Das beträfe auch die Sprache. In der Konstellation „behördisch“ trifft auf „emotionale Betroffenensprache“ sei ein Dialog „auf Augenhöhe“ nur schwer möglich.


Forum 3

Gracia Schade war mit dem Zitat „Wahlmöglichkeiten entstehen dadurch, dass wir uns bewusst werden, was wir wirklich wollen“ gleich mitten im Thema. Die Umsetzung von Wahlmöglichkeiten durch den mit dem SGB IX eingeleiteten Paradigmenwechsel sei auch ein Verdienst der Selbstbestimmt Leben Bewegung. Ein weiterer Aspekt: Begriffe werden unterschiedlich verstanden und müssen daher erklärt werden. Dies gelte auch für die Unterstützung von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Selbst bestimmen lassen, leichte Sprache verwenden, Fehler zulassen und die Betroffenen das Tempo vorgeben lassen – das falle in der Hektik des beruflichen Alltags schwer. 

Mit Fragestellungen nach notwendigen Veränderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen, Forderungen an Beteiligte, nach Hindernissen und möglichen Lösungen, leitete Schade nahtlos in die anschließende Diskussion über. Dabei traten drei grundlegende Aspekte hervor: kompetente Beratung, Barrierefreiheit sowie Kreativität und Mut zur Veränderung. Kompetente Beratung versetze die Ratsuchenden erst in die Situation, Wünsche zu äußern und Wahlmöglichkeiten wahrzunehmen. Wahlmöglichkeiten hängen auch vom barrierefreien Zugang zu den Leistungen ab. Und nicht zuletzt: Kreativität sei gefragt -  auch in Behörden und Verwaltungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern. Gepaart mit dem notwendigen Mut zur Veränderung könne sie eine umfassende Teilhabe ermöglichen. 

 

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

Hubert Seiter wies in seinem Schlusswort auf die vielversprechenden Tagungsergebnisse hin. Sie zeigten, dass die Veranstalter mit diesem Fachgespräch auf einem guten Weg seien. Die BAR forderte er auf, diese Art von Veranstaltungen fortzuführen und die Umsetzung der Ergebnisse voranzutreiben. 

Bernd Petri griff diese Steilvorlage auf. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es – dieses Zitat von Erich Kästner gelte auch für die BAR. Petri:„Wir reden über die Dinge, aber unserer Verantwortung werden wir erst im Tun gerecht. Wir werden von dem, was uns heute ins Stammbuch geschrieben wurde, vieles in unseren Arbeitsauftrag übernehmen“.