Thilos Chance und Nadjas Neustart

Berufliche Rehabilitation mit gebrauchten Büchern

Gleich vorneweg: Thilo und Nadja gibt es so nicht. Aber andere. Und für diese anderen stehen die zwei.

Thilo hatte schon bessere Tage als den 19. März 2012. Es war der Wochenstart nach einem für seinen Geschmack zu ereignisreichen Wochenende. Die Arbeiten am eigenen Haus ziehen sich in die Länge, die Kinder sind ferienreif und sein Chef setzt alles daran, ihn auszubrennen. Auf der Heimfahrt vom Baumarkt schweifen Thilos Gedanken ab und den stehenden LKW vor ihm erkennt er zu spät...Nadja freut sich schon sehr auf das Festival. Ihr Freund Martin ist zwar kein wirklicher Reggae-Fan, aber Nadja war schließlich auch ihm zuliebe mit auf dem Oktoberfest, also revanchiert er sich gern. Und der 07.07.2007 verspricht auch abseits der schönen Zahlen ein Traum-Tag zu werden. Aber plötzlich schaut Nadja komisch und ihr Mundwinkel hängt herunter...Thilo und Nadja kennen sich nicht, werden sich aber kennen lernen. So unterschiedlich die zwei im Alltag sind, so haben sie doch eine Gemeinsamkeit: Ihr gewohntes Leben ist jäh unterbrochen durch eine Hirnschädigung, Thilo wird die Arbeiten an seinem Haus nicht vollenden und Nadja hört an diesem Tag keine Musik mehr.

In den Wertachtal-Werkstätten in Kaufbeuren gibt es seit Oktober 2016 einen eigenen Bereich für Menschen, die im Laufe ihres Lebens eine Hirnschädigung erleiden mussten. Nach längeren Phasen, in denen medizinische und alltagsorientierte Rehabilitation ineinander gegriffen haben, wollen viele endlich wieder arbeiten. Nadja und Thilo auch, schließlich haben beide einen ordentlichen Beruf erlernt. Arbeiten funktioniert aber oft nicht mehr in der bisher gewohnten Tätigkeit und nicht unter den gewohnten Bedingungen. Außerdem ist darauf zu achten, dass es nach Möglichkeit eine Arbeit ist, die keinem Termindruck unterliegt oder auf andere Art Stress erzeugen kann.

Hier haben die Wertachtal-Werkstätten mit www.Buch-Meister.de, einem Anbieter der das Konzept einer Versandbuchhandlung für gespendete Bücher in Werkstätten für Behinderte Menschen installiert, ein Angebot gefunden. Zum einen können über die Arbeitstätigkeit Förderungen im neurehabilitativen Bereich durchgeführt werden, zum anderen ist das Buch als Medium bekannt, selbst erklärend und liefert nach einiger Zeit auch ein ansehnliches Arbeitsergebnis.
Die Schritte und ihre rehabilitative Relevanz sind folgende:

  1. Bücherspenden entgegennehmen: Kraft, Ausdauer, Koordination, situationsadäquate Freundlichkeit
  2. Bücher kontrollieren und sortieren nach klaren Regeln: Wahrnehmung, Konzentration, Gedächtnis
  3. Bücher in die Datenbank einlesen: Konzentration, Aufmerksamkeit, Handlungsplanung, Differenzierungsfähigkeit
  4. Bücher geordnet lagern und bei Bestellung raussuchen: Koordination, Handlungsplanung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit
  5. Für den Postversand vorbereiten: Konzentration, Koordination, Gedächtnis, Handlungsplanung

Nadja liest gerne die Bücher ein, die dann über das Internet Käufer in ganz Deutschland finden. Sie hat viele Reha-Maßnahmen durchlaufen, bevor an einen beruflichen Wiedereinstieg zu denken war. Nadja will wieder arbeiten und sieht die Tätigkeit im Vordergrund. Dass sie nebenbei in verschiedenen Hirnleistungsbereichen gefördert wird, freut die Verantwortlichen in der Gruppe und wird ihr nur deutlich, wenn sie darauf hingewiesen wird. Dies ist ein weiterer Effekt des Buchhandels: er unterstützt die Beschaffenheit des Gehirns, nicht an Einzelleistungen, sondern an Ergebnissen interessiert zu sein.
Thilo sieht seine Fähigkeiten mehr im grobmotorischen Bereich. Er mag die Annahme und das Sortieren der Bücher und trainiert nebenbei seine Koordination und seine leichte Halbseitenlähmung. Im Laufe des Tages unterhalten Nadja und Thilo sich miteinander und mit den anderen Leuten in ihrer Gruppe über alles Mögliche.
Aus Menschen, die im Alltag wenige Berührungspunkte gehabt hätten, wird hier eine bunte Truppe, die sich gegenseitig unterstützt. Dabei sind weder große Altersunterschiede von Bedeutung, noch was  jemand gelernt hat. Die entscheidende Klammer für den Zusammenhalt ist die Erfahrung, aus dem  gewohnten Leben katapultiert worden zu sein und mit verschiedenen Einschränkungen zurechtkommen zu müssen. Der Wiedereinstieg in eine Arbeitstätigkeit ist ein wichtiger Schritt, die  eigene Selbstständigkeit, Autonomie und Würde zu sichern. Thilo und seine Familie freuen sich über die Möglichkeit, den Tag wieder in gewohnter Struktur zu leben und Nadja ist einfach nur froh, den  Neustart gewagt zu haben.

Mehr Informationen gibt es von und bei:
Wertachtal-Werkstätten GmbH
Roland Haag, Psychologe
Porschestr. 30
87600 Kaufbeuren
Tel: +49 (0)8341 / 9007 - 124
haag@wertachtal.de