Erwerbsarbeit und Einkommen
Die Situation von Menschen mit Behinderung
Ein Interview mit Harry Hieb, Vorstandsmitglied NITSA e.V.
Netzwerk für Inklusion, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz e.V.
Welche Effekte hat die Digitalisierung der Arbeitswelt auf die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung?
Die Digitalisierung der Arbeitswelt birgt Chancen und Risiken. Die Einschränkungen, die beispielsweise durch eine Körperbehinderung entstehen, sind in einer digitalisierten
Arbeitswelt nicht mehr so entscheidend. Sie bietet die Möglichkeit mit Menschen ohne Behinderung zu konkurrieren. Immer mehr gut ausgebildete Menschen mit Behinderung, vor allem Akademiker, finden einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Zumindest in den großen Unternehmen scheint das Thema „Diversity“ angekommen zu sein. Auf der anderen Seite bleibt die Situation z. B. für Menschen mit Lernbeeinträchtigungen schwierig. Selbst Menschen mit Behinderung, die einen Ausbildungsberuf erlernt haben, finden keine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt, weil „einfache“ Tätigkeiten durch die Digitalisierung wegfallen. Typische Aufgaben, die zum Beispiel Bürokaufleute
oder Bürohelfer früher ausübten, werden heute von den Mitarbeitern mit erledigt.
Um die Beschäftigungssituation der Menschen mit Behinderung zu verbessern, müssen meines Erachtens 2 Punkte weiterentwickelt werden: Zum einen muss strikt auf Barrierefreiheit in allen Bereichen, insbesondere in der digitalen, aber auch konventionellen Arbeitswelt geachtet werden. Es genügt nicht, nur den öffentlichen Sektor zu verpflichten. Zum anderen muss durch das Budget für Arbeit eine verringerte Leistungsfähigkeit ausgeglichen, und so die Chancen behinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt erhöht werden. Das Budget für Arbeit, so wie es mit dem Bundesteilhabegesetz verabschiedet wurde, geht hier nicht weit genug. Ein max. Lohnkostenzuschuss von 75 %, der aber auf 40 % der Bezugsgröße zur Sozialversicherung gedeckelt wird, verhindert, dass insbesondere Menschen, die nach dem Verlust des Arbeitsplatzes über die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), den Weg zurück auf den ersten Arbeitsmarkt finden.
Wie erklären Sie sich die auch im Teilhabebericht der Bundesregierung dargestellten Unterschiede in den Einkommensverhältnissen von Menschen mit und ohne Behinderung? Was ist zu tun?
Das durchschnittliche Nettoeinkommen eines Menschen mit Behinderung liegt rund 20 % unter dem eines Menschen ohne Behinderung. Das ist eine bemerkenswerte Zahl, denn das Nettoeinkommen bestimmt maßgeblich, wie sich ein Mensch entfalten kann. In Wahrheit ist dieser Unterschied sogar weit größer, da viele Menschen mit Behinderung
zusätzlich Eigenbeiträge für ihre Assistenz an das Sozialamt zahlen müssen. Nur 49 % der Menschen mit Behinderung gehen einer Erwerbstätigkeit nach, während es bei nichtbehinderten 80 % sind. Viele sind erwerbsgemindert und auf Grundsicherung angewiesen, oder gehen einer Teilzeitbeschäftigung nach. Rund 260 000 Beschäftigte arbeiten in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Wer nur ein Taschengeld für seine Arbeit erhält, bleibt immer das Schlusslicht in der Statistik.
Die wichtigste Maßnahme, um dem Einkommensgefälle und dem damit reduzierten Lebensstandard entgegenzuwirken, bleibt die Verbesserung der Beschäftigungssituation behinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Praxis, dass Unternehmen Aufträge an Werkstätten für behinderte Menschen vergeben und diese Dienstleistungen dann mit ihrer Beschäftigungsquote für schwerbehinderte Menschen verrechnen dürfen, ist mir ein Dornim Auge. Manch ein Unternehmen kauft sich damit frei, doch von Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt und von vergleichbaren Löhnen kann nicht die Rede sein.
Das BTHG hat einige Verbesserungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen in der Eingliederungshilfe gebracht. Wer wird davon wieviel profitieren?
Seit Januar 2017 gilt ein zusätzlicher Einkommensfreibetrag, die Vermögensgrenze ist auf 30 000 € angehoben. Ab 2020 sind dann bei der Anrechnung auch die Partner der Menschen mit Behinderung raus, der Vermögensfreibetrag steigt auf rund 50 000 €. Aber von da an ist auch nicht mehr das Monatsnetto- sondern das Jahresbruttoeinkommen entscheidend für die Berechnung des Eigenbeitrags. Übersteigt es bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 85 % (bei Rentner 60 %) des vorherigen jährlichen Durchschnittentgelts müssen vom Mehrbetrag 2 % als Eigenanteil gezahlt werden. Der Beitrag wird dabei monatlich vom Nettoeinkommen gezahlt, berechnet wird er aber vom übersteigenden jährlichen Bruttoeinkommen. Die tatsächliche Höhe steigt so auf 24 %. Die Eigenbeitragsberechnung berücksichtigt heute die besondere Belastung schwer pflegebedürftiger (mit Pflegegrad 4 oder 5) und blinder Menschen, indem gem. § 87 Abs. 1SGB XII mindestens 60 % des übersteigenden Nettoeinkommens geschont werden. Eine analoge Regelung gibt es im neuen Recht ab 2020 nicht. Unter dem Strich: Der Wechsel vom Netto- zum Bruttoprinzip und die fehlende Berücksichtigung der besonderen Belastungen können zu Mehrbelastungen gegenüber heute führen. Die Bestandsschutzregelung, die eine Schlechterstellung der "Altfälle" verhindern soll, ist schon bei einer "wesentlichen" Einkommensänderung verloren. Und wer heute noch studiert und erst ab 2020 arbeitet, wird sich auf den Bestandsschutz gar nicht berufen können.
Was ist für Sie unbezahlbar und wovon können wir als Gesellschaft nie genug haben?
Selbstbestimmt sein Leben führen zu können, ist definitiv unbezahlbar. Selbstbestimmung ist ein Wert, der vielen erst dann bewusst wird, wenn sie plötzlich auf Hilfe angewiesen sind. Das erklärt auch, warum das sog. Zwangspoolen, also die gemeinschaftliche Erbringung von Assistenzleistungen gegen den Willen der Betroffenen, so scharf kritisiert wurde. Dank meiner Assistenten kann ich selbstbestimmt leben, obwohl ich nahezu 24 Stunden Hilfe am Tag benötige. Sie unterstützen mich dort, wo es nötig ist, aber sie mischen sich nicht in meine Entscheidungen ein. Das zeichnet einen guten Assistenten aus, und das schätze ich sehr an meinen.