Die Umsetzung des BTHGs im Fokus
Bundestagsdrucksache 18/9555. Was in der parlamentarischen Sprache nüchtern klingt, soll die Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen in Zukunft verbessern. Am 1. Dezember 2016 wurde die größte Reform des Reha- und Teilhaberechts in den letzten 15 Jahren vom Bundestag beschlossen. Bis zur Abstimmung im Bundestag gab es Proteste gegen einige neue Regelungen. Dies betraf insbesondere Vorschriften des zweiten Teils des neuen Sozialgesetzbuchs IX, die für die Eingliederungshilfe gelten. Die Einwände blieben im Ergebnis nicht wirkungslos, Nachbesserungen wurden verankert. Die Zielstellungen des Gesetzgebers blieben richtig und unverändert – mehr Selbstbestimmung und die Weiterentwicklung des Rechts der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen wurde noch stärker in den Mittelpunkt des Verfahrens gerückt. Mehr Steuerung soll eine veränderte Ausgabendynamik vermeiden. Erweiterte Regelungen zur Stärkung der Zusammenarbeit wurden eingeführt.
Das Gesetz tritt nun Schritt für Schritt in Kraft. Der Umsetzungshorizont des Artikelgesetzes umfasst mehrere Jahre. Insbesondere bei Reha-Trägern stehen seit der Verabschiedung des Gesetzes Fragen der Umsetzung der neuen Vorschriften im Vordergrund. Teil 1 des SGB IX, der für alle Reha-Träger, also auch für die Eingliederungshilfe gilt, ist nun seit etwa 9 Monaten für die Praxis bindend. Es ist an der Zeit, einen ersten Blick mit übergreifender Perspektive auf die Aktivitäten zur Umsetzung des Gesetzes zu richten.
Sichtbare Veränderungen
Eine deutlich erkennbare Veränderung hat die bisherige Beratungslandschaft erfahren. Neben der Beratung durch die Reha-Träger und Leistungserbringer sollen nun die Beratungsstellen der EUTB (Ergänzende Unabhängigen Teilhabeberatung) die Beratung für Menschen mit Behinderungen ergänzen. In vielen Stadt- und Ortszentren sind sie schon gut sichtbar – mehr als 400 neue Beratungsstellen vor Ort. Bundesweit, niederschwellig und natürlich kostenfrei – dabei soll der Mensch, seine Bedürfnisse und Lebenswelt den Mittelpunkt der Beratung bilden. Das heißt, die Beratung ist bei Bedarf aufsuchend oder findet durch sog. Peer Counseler, die selbst eine Behinderung haben, statt. Die Einführung dieser Beratungsstruktur war ein Kernanliegen der Verbände von Menschen mit Behinderungen. Der Bund fördert diese Strukturen nun mit über 50 Mio. EUR im Jahr. Wie sieht der Arbeitsalltag in einer EUTB aus? Einen Bericht über die EUTB-Beratungsstelle in Grimma finden Sie auf Seite VII.
Zahnloser Tiger
Der erste Teil des SGB IX galt lange Zeit als zahnloser Tiger. Es gab viele gute oder gut gemeinte Regelungen, aber kaum Beachtung und Wirkung in der Wirklichkeit. Mit dem 1. Januar 2018 wurden nun zentrale Änderungen für alle Reha-Träger in Kraft gesetzt. Kodifiziert wurden die neuen Maßgaben insbesondere in den Regelungen der Kapitel 2–4 des Sozialgesetzbuchs IX, die nun abweichungsfest gelten. Eine Gesetzestechnik, die das alte Reha- und Teilhaberecht mit dieser Verbindlichkeit nicht kannte. Die Vorschriften zum Reha-Prozess, das heißt zur Einleitung der Reha von Amtswegen, zur Erkennung und Ermittlung von Reha-Bedarf und zur Koordinierung der Leistungen, gelten für alle Reha-Träger und sind für alle vorrangig. Eine schnelle Klärung der Zuständigkeit, eine umfassende Ermittlung von Bedarfen sowie geplante und abgestimmte Leistungen, das erwartet nicht nur der Gesetzgeber. Lange Bearbeitungsschleifen und Doppelbegutachtungen zu Lasten des Menschen mit Behinderung soll es nun nicht mehr geben. Die Informationspflichten der Reha-Träger wurden mit dem BTHG verstärkt. Über Weiterleitungen von Anträgen, den Einbezug anderer Träger im Sinne einer Beteiligung oder das Nichteinhalten von Fristen ist der Leistungsberechtigte nun direkt zu informieren.
Ideen und Kreativität
Das Bundesteilhabegesetz schafft einen normativen Rahmen, gleichwohl lässt es viel Raum für innovative und kreative Entwicklungen und Projekte. Über Systembeobachtung durch den Teilhabeverfahrensbericht (vgl. Reha-Info 01-2018) und die neuen Beratungsstrukturen hinaus hat der Gesetzgeber ganz verschiedene Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im Gesetz normiert. Neben einer Studie zur Bedarfsermittlung (§ 13 Abs. 3 SGB IX) sei besonders auf die Förderung von Modellprojekten (§ 11 SGB IX) hingewiesen. Dazu wurde die unabhängige Fachstelle rehapro bei der Knappschaft eingerichtet, die für das BMAS die zuwendungsrechtliche und organisatorische Abwicklung der Modellprojekte übernimmt. Allein 14.000 Menschen treten jährlich aus dem Trägerbereich der Bundesagentur für Arbeit in eine Werkstatt für behinderte Menschen ein. Viele weitere Menschen verlassen den Arbeitsmarkt im Zuge einer Erwerbsunfähigkeitsrente. Rentenversicherungsträger und Jobcenter sind durch das Gesetz gefordert, Modelle zu entwickeln, Erwerbsfähigkeit zu erhalten und Übergänge in die Eingliederungshilfe zu vermeiden. Im Mai 2018 wurde dazu die Förderrichtlinie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) veröffentlicht. Der erste von drei Förderaufrufen wurde vorgenommen. Näheres dazu können Sie im Beitrag von Vanessa Ahuja (zuständige Abteilungsleiterin im BMAS) auf Seite IV nachlesen.
Trägerübergreifende Umsetzung
Ist das SGB IX schon in der alltäglichen Verwaltungspraxis angekommen? Gesetze folgen einer generell-abstrakten Logik. Was bedeutet das konkret-individuell? Ein Gesetz stellt das Fundament für die Strukturen und Prozesse der Praxis dar. Das Handeln orientiert sich wiederum an Recht und Gesetz. Die Reha-Träger haben auf Ebene der BAR das Jahr 2017 genutzt und eine neue Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess entwickelt (vgl. Reha-Info 01-2018 und www.bar-frankfurt.de/Arbeitsentwurf ). Weil die Neuregelungen alle Reha-Träger und deren Zusammenarbeit betreffen, wurden hier gemeinsame Konkretisierungen und Ausgestaltungen der Regelungen erarbeitet. Innerhalb von etwa einem Jahr wurden dazu 89 Paragraphen in 82 Seiten gegossen. Für die kommenden Monate hat der Vorstand der BAR nun zehn weitere Vorhaben zur Umsetzung des Gesetzes und der GE „Reha-Prozess“ beschlossen. Diese Vorhaben umfassen ein weites Spektrum, vom Datenschutz im Reha-Prozess über eine trägerübergreifende Formularkommission bis hin zu verschiedenen Qualifizierungs- und Schulungsangeboten, auch in der Region (siehe Grafik „Vorhaben auf Ebene der BAR“ auf Seite IV).
Individueller Reha-Prozess
Aus gesetzlichen Vorschriften, übergreifenden Vereinbarungen und Vorhaben sollen Strukturen entstehen, die die LebenswirkLebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen verbessert. Ein Antrag soll zukünftig ausreichen, um alle nötigen Leistungen zur erhalten. Beispielhaft wurde das Prinzip der Meistbegünstigung in der Gemeinsamen Empfehlung der Reha-Träger fest verankert. Demnach ist, wenn eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung aus dem Antrag nicht hervorgeht, davon auszugehen, dass der Antragsteller alle nach Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt (§ 5 Abs. 3 des Arbeitsentwurfs GE Reha Prozess). Es liegt auf der Hand: Die Bedarfe eines Menschen sind individuell und oft sehr vielseitig. Durch die neuen Regelungen rückt der Mensch stärker in den Fokus. Nicht die Möglichkeiten einer Verwaltung, sondern der Bedarf des Einzelnen an Teilhabe bildet die Grundlage für die Planung und Entscheidung über Leistungen. Die neuen Regelungen zur Bedarfserkennung und -ermittlung sollen dem Menschen mit seinen Bedürfnissen, Lebenswirklichkeiten und Zielen passgenauer begegnen. Zu welchen Bedarfen führen Beeinträchtigungen eines Menschen und welche Leistungen passen dazu? Daher ist die Beteiligung weiterer Träger bei der Bedarfsermittlung und der Teilhabeplanung in gewissen Konstellationen nötig und geboten. Seien es z. B. Arbeitsunfälle, bei denen auch eine Suchterkrankung eine Rolle spielt und ein Reha-Träger nicht alleine zuständig sein kann. Oder seien es Bedarfe, die erkannt wurden, aber passende Leistungen in die Zuständigkeit eines weiteren Trägers fallen, der z.B. medizinische Leistungen erbringen darf. Vor Ort sind Länder und Verwaltungen gefragt.
Gesetz wird Praxis
Abstrakte Regelungen müssen in den Organisationen vor Ort mit Leben befüllt werden, damit sie ihre Wirkkraft entfalten. Sie müssen in den Organisationen akzeptiert und verstanden werden, Veränderungsbereitschaft ist zur Einleitung des Umsetzungsvorgangs gefordert. Prof. Pippke beschäftigte sich in der Ausgabe 02-2018 mit dieser Frage aus der Perspektive eines Verwaltungswissenschaftlers. Für Reha-Berater, Sachbearbeiter, Gutachter und weitere Akteure im Reha-Geschehen konkretisieren sich die Fragen: Welche Auswirkungen haben die Neuerungen auf mein tägliches Handeln? Wie setze ich die Aufgaben fristgemäß um? Und wie kann ich die neuen Aufgaben neben den anderen Tätigkeiten leisten? Die Führungskräfte der Verwaltungen bei den Reha-Trägern vor Ort dürften hier momentan gefragt sein, Aufbau- und Ablauforganisation neu auszurichten. Aus Sicht eines Sozialversicherungsträgers hat sich Jürgen J. Ritter Abteilungsleiter bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) unseren Fragen zur Umsetzung in der DRV Bund gestellt (siehe Seite V).
Die BAR-Seminare zum neuen Sozialgesetzbuch IX
Die Aufgaben des leistenden Rehabilitationsträgers nach dem SGB IX
25.10.2018 in Erfurt
Praxisdialog: Reha-Bedarfe erkennen & ermitteln – Teilhabe planen
07.11. - 08.11.2018 in Kassel
Rehabilitation und Teilhabe – Akteure im Reha-Geschehen
28.11. - 29.11.2018 in Dortmund
Mehr Informationen zu den einzelnen Seminaren finden Sie auf:
www.bar-frankfurt.de/fort-und-weiterbildung