Fünf Fragen an Brigitte Gross (DRV Bund) und Martin Litsch (AOK Bundesverband)
Die medizinische Rehabilitation hat das Ziel, Folgen von Krankheiten und Unfällen sowie ihre Auswirkungen zu verringern und für die Betroffenen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und am Arbeitsleben zu erhalten. Dem muss sie jeden Tag aufs Neue gerecht werden. Es geht darum, sich stärker an individuellen Beeinträchtigungen zu orientieren, Leistungen zeitlich flexibler zu gestalten, Prävention und Nachsorge zu verbessern, sowie eine effektivere Vernetzung zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang haben wir zwei wichtige Akteure befragt, wie sie aktuell auf die medizinische Rehabilitation in Deutschland blicken.
Die medizinische Rehabilitation ist ein wesentlicher Baustein für den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und die Rückkehr ins Arbeitsleben. Was läuft dabei besonders gut? Und wo sehen Sie Herausforderungen?
Martin Litsch: Die Frage richtet sich in erster Linie an die Gesetzliche Rentenversicherung. Diese finanziert die medizinische Rehabilitation für Arbeitnehmer. Dabei sind Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und Rückkehr in das Arbeitsleben zentrale Aufgaben. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist dagegen vor allem für alle Rehabilitations-Leistungen zuständig, die von Rentnern benötigt werden. Hier geht es um die Vermeidung oder Minderung einer Behinderung sowie der Pflegebedürftigkeit.
Brigitte Gross: Seit jeher ist es für uns sehr wichtig, Rehabilitation individuell, flexibel und qualitativ hochwertig anzubieten. Da für uns der Fokus auf der Wiedererlangung oder dem Erhalt der Erwerbsfähigkeit liegt, hat die Rentenversicherung den Berufsbezug in die Leistung integriert. Diese medizinisch-beruflich orientierten Leistungen (MBOR) sind ein gutes Beispiel der Rehabilitation der Rentenversicherung. Eine große Herausforderung ist es, frühzeitig den Reha-Bedarf zu identifizieren und die Betroffenen zur Antragstellung zu motivieren. Eine weitere Herausforderung ist, den Erfolg der Reha über ihre Dauer hinaus zu verstetigen. Die Frage lautet: Wie kann es nach der Reha nahtlos und bestmöglich für den Versicherten in der Versorgung weitergehen? An diesem Punkt ist ein gut strukturierter Prozess in Zusammenarbeit mit anderen Akteuren gefordert.
An welchen Stellschrauben würden Sie medizinische Reha-Leistungen weiterentwickeln? Welche Bedeutung haben dabei trägerübergreifende Aktivitäten für die DRV Bund / den AOK Bundesverband?
Brigitte Gross: Ich denke, dass wir noch einiges zu tun haben, um die „Personenzentrierung“ wirklich zu leben. Dies bedeutet einen kulturellen Wandel sowohl in der Verwaltung als auch in den Reha-Einrichtungen. Zudem ist bei komplexen Bedarfslagen ein individuelles Fallmanagement gefordert. Des Weiteren müssen Schnittstellen zu anderen Leistungsträgern aktiv gestaltet werden, um den Rehabilitanden Leistungen „wie aus einer Hand“ anbieten zu können. Hierbei wünsche ich mir einen noch intensiveren inhaltlichen Austausch als auch die Möglichkeit der trägerübergreifenden Datennutzung.
Martin Litsch: Grundsätzlich werden trägerübergreifende Aktivitäten immer wichtiger. Unser Anspruch ist dabei eine gute Zusammenarbeit zwischen den Kostenträgern und den Leistungserbringern. Das wird auch gesetzlich immer mehr gefordert. Es gibt an anderen Stellen noch Optimierungsmöglichkeiten, unter anderem durch die Rahmenverträge zum Entlassmanagement nach Krankenhausaufenthalten und stationärer Rehabilitation. Künftig sollen sie eine bessere Verzahnung aller Leistungsbereiche ermöglichen. Die Schnittstellen zwischen vollstationärer Krankenhausversorgung, einer anschließenden Rehabilitationsmaßnahme und der danach erfolgenden Anschlussversorgung sollen so ausgestaltet werden, dass allen Beteiligen jederzeit die benötigten Informationen vorliegen. Dies wird die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ermöglichen. Dort ist eine geregelte trägerübergreifende Koordination von Teilhabeleistungen vorgesehen. Zudem ist die Qualitätssicherung von großer Bedeutung. Aktuell werden Rehabilitationseinrichtungen unter anderem von der GKV in den Dimensionen Struktur-, Prozess-, Ergebnisqualität und Patientenzufriedenheit gemessen. Damit wird im Anschluss eine qualitätsorientierte Belegungs- und Vertragsgestaltung ermöglicht. Dieses Verfahren wird dauerhaft weiterentwickelt. Es wäre dabei auch sinnvoll, wenn wir die Qualitätssicherungsergebnisse der Rentenversicherung mit denen der GKV zusammenführen. Von dieser Zusammenarbeit würden alle Beteiligten profitieren.
Die frühzeitige Erkennung von Reha-Bedarf spielt nicht erst seit dem Inkrafttreten des BTHG eine zentrale Rolle. Wie können Ärzte und Therapeuten Bedarfe während einer medizinischen Rehabilitation besser erkennen? Wie sollen sie mit „neuen Bedarfen“ umgehen?
Martin Litsch: Nach dem neunten Sozialgesetzbuch haben die Rehabilitationsträger sicherzustellen, dass ein Reha-Bedarf frühzeitig erkannt und auf eine Antragstellung der Leistungsberechtigten hingewirkt wird. Das frühzeitige Erkennen von Bedarfen während des Rehabilitationsverlaufs wird durch Zwischenuntersuchungen von Ärzten und Therapeuten sichergestellt. Auf dieser Basis kann die Therapieplanung dann individuell angepasst werden. Sollte nach der Rehabilitationsmaßnahme weiterer Bedarf erkennbar sein, können Nachsorgeangebote genutzt werden.
Brigitte Gross: Dass die Rentenversicherung und die von ihr in Anspruch genommenen Reha-Kliniken in der Lage sind, weitergehenden Reha-Bedarf im Sinne beruflicher Reha-Leistungen (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) zu erkennen, gehört zu ihren Kernkompetenzen. Um Reha-Bedarf in anderen Bereichen des Teilhabe-Rechts zu verifizieren, ist das gut ausgebildete und fachlich qualifizierte Personal in den Kliniken gefordert. Unterstützen könnten beispielsweise „Checklisten“ unserer Partner aus anderen Bereichen des Sozialrechts, die unter Federführung der BAR zusammengestellt werden und als Assessments dienen könnten. Die Anwendungshäufigkeit dieser Instrumente während einer Reha und deren Resultate könnten in der Qualitätssicherung ermittelt werden. Auch hier ist entscheidend, dass die Kommunikation zwischen allen am Reha-Prozess Beteiligten funktioniert.
Die Ambulantisierung in der Rehabilitation ist aktuell ein großer Trend. Welche Aktivitäten unternimmt die DRV /der AOK-Bundesverband, um dem gesellschaftlichen Anspruch gerecht zu werden?
Brigitte Gross: Ambulante Reha-Leistungen im Sinne von ganztägig ambulant bieten wir seit Jahrzehnten an. Die Inanspruchnahme ist je nach Indikation unterschiedlich. Bislang haben wir mit über 250 Reha-Zentren entsprechende Verträge abgeschlossen. In einem Modellprojekt haben wir z. B. eine berufsbegleitende ambulante Rehabilitation angeboten. Die Resonanz der Versicherten war hier aber eher verhalten. Auch das Flexirentengesetz ermöglicht die Durchführung von Kinderrehabilitation in ambulanter und/oder in gemischter Form, nicht mehr nur stationär. Wir werden in den kommenden Jahren verschiedene Angebote modellhaft erproben.
Martin Litsch: Hier gilt der gesetzliche Grundsatz „ambulant vor stationär“. Dieser wird auch von der AOK beherzigt. Zudem erhält nicht jeder Patient automatisch eine stationäre Reha-Maßnahme. In vielen Fällen können auch schon mit ambulanten Maßnahmen sehr gute Erfolge erzielt werden. Die mobile Reha gehört als besondere Form der ambulanten Reha bereits zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen. Bei diesem Konzept erbringt ein spezialisiertes Team die erforderlichen Leistungen in der für den Rehabilitanden vertrauten Umgebung. Dadurch können wichtige Faktoren wie die häusliche Umgebung, das soziale Umfeld und die Familie optional einbezogen werden. Außerdem werden von den Krankenkassen weitere ergänzende ambulante Maßnahmen wie Rehabilitationssport und Funktionstraining angeboten.
Welche Auswirkungen wird die Digitalisierung auf die medizinische Rehabilitation haben?
Brigitte Gross: Aktuell können wir noch nicht absehen, was „Beschäftigungsfähigkeit“ in Zukunft bedeuten wird. Was wir aber bereits wissen: Expertenwissen, Kreativität, Flexibilität, Selbstlernkompetenz und digitale Medienkompetenz werden die entscheidenden „Skills“ in global vernetzten, digitalen Arbeitsprozessen sein. Wir werden deswegen unsere Reha-Angebote auf der Basis neuer, innovativer Ansätze kontinuierlich weiterentwickeln. Das Bundesprogramm „rehapro“ bietet wertvolle Initiativen. Digitale Technologien sind bei der Weiterentwicklung der Reha nicht nur für die Informationsvermittlung gefragt, sondern vor allem für die digitale Begleitung des Reha-Prozesses von der qualitätsorientierten Einrichtungsauswahl bis zur app-gestützten Nachsorge von großer Bedeutung.
Martin Litsch: Aufgrund der komplexen Versorgungsketten können Leistungserbringer und Kostenträger der Rehabilitation künftig von der Digitalisierung enorm profitieren. So ermöglicht eine elektronische Patientenakte eine Zusammenführung der Daten, die bisher an unterschiedlichen Stellen vorlagen. Das kann zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern, niedergelassenen Ärzten und Reha-Einrichtungen deutlich verbessern und mehr Transparenz schaffen – auch für die Patienten.