Demokratie braucht Perspektiven
Gegen politischen Verdruss hilft Repräsentation
Als Martin Zierold 2011 anfing, Politik für die Grünen im Bezirk Berlin-Mitte zu machen, war das öffentliche Interesse groß. Es erschienen Artikel über sein Wirken und Interviews, die seiner Motivation auf den Grund zu gehen suchten. Immerhin war er der erste gehörlose Mensch in einem deutschen Parlament. Er eröffnete damit vielen hörenden Menschen Einblicke in eine Kultur, von der sie bis dahin nicht den Hauch einer Ahnung hatten. Gehörlosigkeit plötzlich nicht mehr schlicht als Beeinträchtigung werten zu können, sondern mit einer Sprache zu verbinden, die komplex ist, ihren eigenen Regeln und einer besonderen Ästhetik folgt, löste Erstaunen aus.
Dass es für viele taube Menschen eine Zumutung ist, auf Lautsprache getrimmt zu werden, weil es für sie immer eine Fremdsprache mit komplizierter Grammatik bleiben wird, konnte er so einem breiten Publikum vermitteln. Und darüber hinaus auch die Tatsache aufzeigen, dass das Erreichen der Hochschulreife den allermeisten gehörlosen Menschen versperrt bleibt, weil an vielen angeblich spezialisierten Schulen für gehörlose Kinder und Jugendliche gar keine Lehrerinnen und Lehrer unterrichten, die gebärdensprachkompetent sind und auf dieser Grundlage ihren Unterricht gestalten.
Als ich zum ersten Mal die Beschwerde einer gehörlosen Mutter auf dem Schreibtisch hatte, der das Elterngespräch an der sogenannten Förderschule ihrer Tochter nicht ermöglicht wurde, weil sie nicht mit den Lehrerinnen und Lehrern der Schule kommunizieren konnte, musste ich dreimal nachfragen, weil ich es nicht für möglich hielt. Wenn man Martin Zierold zuhört, versteht man, warum taube Menschen fordern, ihre Kultur als die einer Minderheit anzuerkennen und als solche wertzuschätzen. Niemals wird das ein Dritter in gleich authentischer Weise glaubhaft machen können. Leider sah sich Martin Zierold irgendwann gezwungen, sein Mandat niederzulegen, weil er in der Politik auf Strukturen traf, die das Gegenteil von inklusiv sind. Dolmetscherinnen und Dolmetscher wurden spärlich finanziert, bestenfalls für Gremiensitzungen. Randgespräche oder Vororttermine im Bezirk musste er dauerhaft mit Ehrenamtlichen aus seinem persönlichen Umfeld bestücken. Und das, obwohl alle wissen, dass Politik zu mindestens 90 Prozent aus informeller Kommunikation besteht. So blieb Martin Zierolds Arbeit auf der politischen Bühne ein kurzes Intermezzo. Die Aussicht, dass ein gehörloser Mensch in absehbarer Zeit in einem Landtag, im Bundestag oder Europaparlament vertreten sein wird, ist aus heutiger Sicht gering. Mit Teilhabe und Chancengerechtigkeit hat das nichts zu tun.
Wo bleibt die repräsentative Mischung?
„Nichts über uns ohne uns“ lautet die Leitmaxime der UN-Behindertenrechtskonvention, die uns seit 2009 als gesetzliche Grundlage zur Realisierung einer inklusiven Gesellschaft dient. Ein ziemlich leeres Versprechen, blickt man in die Reihen des Bundestags (nicht nur) in dieser Legislaturperiode. Im Europäischen Parlament sitzt mit Katrin Langensiepen zum ersten Mal eine Frau mit sichtbarer Beeinträchtigung. Das ist wunderbar und bezeichnend zugleich.
Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte einmal: „Ein Parlament ist keine Versammlung von Helden und Heiligen, sondern von Volksvertretern – eine ziemlich repräsentative Mischung von Herkunft, Alter, Berufen, Begabungen, Temperamenten, Erfahrungen, Stärken und Schwächen.“ Wie er darauf kommt, bleibt sein Geheimnis.
Das Problem mit der Repräsentation beginnt aber nicht erst in den Parlamenten. Auch die Parteien behaupten zwar, dass sie für diverse Zielgruppen ein Angebot bereithalten. Allerdings werden diese Angebote oft von Akteurinnen und Akteuren vertreten, die selbst gar nicht betroffen sind und nicht über einen entsprechenden Erfahrungshintergrund verfügen. Das führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen, aber auch Nichtakademikerinnen und Nichtakademiker, People of Colour, Frauen und Jugendliche sich von ihnen fernhalten. Unter diesem Mangel an Perspektiven leidet unsere Demokratie. Sie braucht Inklusion – dringend!