Datenschutz als Grundlage für Vertrauen und Zusammenarbeit im BEM
"Eine täglich im Sitzen ausgeführte Arbeitstätigkeit kann die Erwerbsfähigkeit hinreichend schwer gefährden."
Orientierungssätze* |
1. Zur Erreichung der Ziele des Betrieblichen Eingliederungsmanagements bedarf es nicht der Bekanntgabe seitens der Arbeitnehmerin mitgeteilter Diagnosedaten gegenüber Vertretern der Arbeitgeberin, die im BEMVerfahren nicht beteiligt sind.Die Beratungspflicht eines Krankenhauses erstreckt sich im Rahmen des Versorgungs- und Entlassmanagements auf alle Folgen, die nach Entlassung bei Behandlungsabschluss möglich erscheinen. |
2. Die Pflegekasse muss sich Beratungsfehler des Krankenhauses wie eigene Fehler zurechnen lassen und hier nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches Pflegegeld auch rückwirkend zahlen. |
LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 28.07.2021, Az.: 4 Sa 68/20 (rechtskräftig) |
* Leitsätze oder Entscheidungsgründe des Gerichts bzw. Orientierungssätze nach JURIS, redaktionell abgewandelt und gekürzt |
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung. Spätestens ab 2019 traten bei der klagenden Arbeitnehme-rin verschiedene Kurzzeiterkrankungen auf, weshalb die beklagte Arbeitgeberin nach ihrem Vortrag ein Verfahren zum BEM einzuleiten beabsichtigte. Neben der Frage des Zugangs des Einladungsschreibens vom Januar 2020 stand vor allem die Verhältnismäßigkeit der Kündigung und in diesem Zusammenhang die rechtskonforme Datenverarbeitung im BEM im Mittelpunkt. Hierbei ging es insbesondere um eine „Datenschutzerklärung“, mit der die Beklagte von der Klägerin eine Einwilligung nicht nur zur „Erhebung“ und „Nutzung“ (auch) von Gesundheitsdaten (s. Art. 4 Nr. 15, Art. 9 EU-DSGVO), sondern auch zur „Bekanntmachung“ der Daten u. a. gegenüber Vorgesetzten und der „Standortleitung“ einholen wollte. Der Kündigungsschutzklage hat das Arbeitsgericht stattgegeben. Die Berufung der Beklagten vor dem LAG war erfolglos.
Ebenso wie die Vorinstanz betont das LAG mit Blick auf § 1 Abs. 2 KSchG, dass die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung eine negative Gesundheitsprognose und bei deren Vorliegen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze. Die ordnungsgemäße Durchführung eines BEM sei zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung, die Vorschrift hierzu konkretisiere aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei einer krankheitsbedingten Kündigung. Insoweit trage die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast. Selbst wenn der ordnungsgemäße Zugang des Einladungsschreibens hätte festgestellt werden können, erweise sich jedenfalls die Unterrichtung über die Art und den Umfang der für das BEM erhobenen und verwendeten Daten als unzureichend. Nach Feststellung des Gerichts war das BEM mithin nicht ordnungsgemäß. Für eine „Bekanntmachung“ jedenfalls aller offenbarten Gesundheitsdaten einschließlich Diagnosen gegenüber der Standortleitung, wie in der durch die Beklagte verwendeten „Datenschutzerklärung“ vorgesehen, bestehe kein nachvollziehbarer Grund. Es genüge, wenn die Arbeitgeberin wisse, auf welche Einschränkungen bei etwaiger Arbeitsplatzumgestaltung zu achten sei. Der Kenntnis der zugrunde liegenden Diagnosen bedürfe es nicht. Bei „Selbst-Offenbarung“ von Gesundheitsdaten – die nicht zur Durchführung des BEM erforderlich seien – gegenüber den Vorgesetzten, müsse der Arbeitnehmerin bewusst sein, dass dies nur freiwillig geschehen kann und es dazu ihrer (schriftlichen) Einwilligung bedarf.
Vorliegende LAG-Entscheidung setzt die ständige Rechtsprechung zur kündigungsschutzrechtlichen Bedeutung des BEM fort (vgl. z. B. auch Reha-Info 2/2015) und macht bewusst, welch hohe Bedeutung dem Datenschutz für eine vertrauensvolle und effektive Zusammenarbeit der Akteure im Bereich der Rehabilitation und Teilhabe zukommt. Fragen dazu, welche Daten erforderlich sind bzw. von wem Daten erhoben oder übermittelt werden dürfen, stellen sich wie hier beim BEM im gesamten Reha-Geschehen, in dem regelmäßig gesundheitsbezogene Daten und das Zusammenwirken verschiedener Stellen im Fokus stehen. Mit der Zusammenarbeit der Reha-Träger untereinander und beispielsweise mit Ärztinnen und Ärzten sowie Leistungserbringern befasst sich eine unlängst auf Ebene der BAR veröffentlichte weitere einschlägige Arbeitshilfe („Datenschutz in der Rehabilitation“).