Medizinisch-Taktile Untersucherin (MTU) – ein Beruf für blinde und sehbehinderte Frauen
Jessica van Bebber hat eine angeborene Seheinschränkung, die sich im Laufe ihres Lebens verschlechtert hat. „Mittlerweile sehe ich nur noch circa ein Prozent, bin also nach gesetzlicher Definition blind“, erklärt die 35-Jährige. Dennoch führt sie ein selbstständiges Leben und übt einen Beruf aus, in dem sie ihre Talente voll entfalten kann. Empathie und Sozialkompetenz, den verantwortungsvollen Umgang mit Menschen und vor allem ihre ganz besondere Begabung: Wie fast alle blinden Menschen verfügt Jessica van Bebber über einen hochsensiblen Tastsinn, der dem sehender Personen weit überlegen ist.
von Gudrun Heyder, discovering hands
2015 stieß die junge Frau im Internet auf discovering hands, ein Sozial- und Integrationsunternehmen, das blinde und stark sehbehinderte Frauen zu Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen ausbildet. Seit 2018 ist die Düsseldorferin dort, wie inzwischen über 40 weitere Kolleginnen, fest und unbefristet angestellt. „Die wesentliche Aufgabe von MTUs ist die sehr ausführliche Brusttastuntersuchung namens Taktilographie“, erläutert van Bebber. „Sie stellt in der Brustkrebsfrüherkennung eine weitere Säule in der Diagnose dar, neben der kurzen ärztlichen Tastuntersuchung und bildgebenden Verfahren.“
Die Untersuchung „von Frau zu Frau“ dauert je nach Brustgröße 30 bis 60 Minuten. Die MTU tastet das Lymphgewebe und die Brust der Patientin systematisch Millimeter für Millimeter in drei Tiefenschichten ab. „Das ist reine ‚Handarbeit‘, was die Frauen als sehr angenehm empfinden“, berichtet die MTU. Die Patientinnen jeden Alters stellen der Brustexpertin auch Fragen rund um die Brustgesundheit. „Sie vertrauen mir, viele freuen sich auf die jährliche Untersuchung.“ Manche Risikopatientinnen kommen auch alle paar Monate zu ihr.
Die Taktilographie findet stets unter der Verantwortung eines Frauenarztes statt. Daher kooperiert discovering hands per Arbeitnehmerüberlassung mit bereits etwa 100 Arztpraxen in Deutschland. Anhand des Tastbefundes der MTU stellt der Facharzt direkt im Anschluss die Diagnose. Bei einem unklaren Befund folgt ein Ultraschall und eventuell eine Mammografie. Das ist aber selten, denn verdächtige Gewebeveränderungen tasten die MTUs glücklicherweise nur bei den wenigsten Untersuchungen. Aber wenn sie einen Knoten finden, der sich als bösartig herausstellt, kann das ihrer Patientin das Leben retten.
Jessica van Bebber ist absolut überzeugt von der Sinnhaftigkeit ihres ärztlichen Assistenzberufs: „Von dieser Tätigkeit bin ich völlig fasziniert: ein Beruf, der nicht näher am Menschen sein könnte. Es ist so schön, täglich mit den Frauen arbeiten zu dürfen und ihnen durch meine herausragende Tastfähigkeit sowie meine sozialen Kompetenzen eine zusätzliche Möglichkeit der Brustkrebsfrüherkennung bieten zu können. Ich freue mich über jede Patientin, die dieses Angebot annimmt.“
Das vielfach mit Preisen ausgezeichnete Mülheimer Sozialunternehmen gilt als vorbildlich, denn es verbessert die berufliche Inklusion blinder Frauen maßgeblich. Und im Kampf gegen den Brustkrebs bietet es eine zusätzliche gerätefreie Untersuchung, deren Kosten schon knapp 30 gesetzliche Krankenkassen sowie alle privaten Krankenversicherungen übernehmen. In der jeweiligen Praxis Patientin zu sein, ist keine Voraussetzung.
Wie viele MTUs führt van Bebber auch Taktilographien bei Untersuchungen im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements durch. „Immer mehr Unternehmen bieten ihren Mitarbeiterinnen diese Spezialuntersuchung an und machen sehr gute Erfahrungen damit“, freut sich discovering hands - Geschäftsführer Arndt Helf. „Eine weitere Leistung von discovering hands ist die professionelle Schulung zur Selbstabtastung der eigenen Brust (ATS) durch unsere MTU, die extrem positiven Zuspruch seitens der teilnehmenden Frauen erhält.“
Arndt Helf und discovering hands-Gründer Dr. Frank Hoffmann sehen enorme Chancen für MTUs auf dem Arbeitsmarkt: „Wir bilden laufend aus und möchten jährlich mindestens 20 weitere MTUs in den Beruf bringen und fest bei uns einstellen, um die verbesserte Brustkrebsfrüherkennung bald in ganz Deutschland verfügbar zu machen. Jede sehbehinderte Interessentin, deren Eignung wir im Assessment feststellten, erhält bereits vor der Ausbildung von uns einen Arbeitsvertrag.“
Blinde und stark sehbehinderte Frauen von 18 bis circa 58 Jahren können fast jederzeit mit der neun- bis zehnmonatigen theoretischen und praktischen Ausbildung beginnen. Ein Eignungstest (Assessment) geht dem voraus. Dank E-Learning-Plattform findet die Ausbildung zu etwa 50% von zuhause aus statt. Für Frauen ohne Reha-Anspruch besteht die Möglichkeit eines Ausbildungs-Stipendiums. Weitere Infos: https://www.discovering-hands.de/ueber-uns/mtu-ausbildung |