Literatur in Einfacher Sprache hat ganz viele Möglichkeiten

7 Fragen an Hauke Hückstädt

Hauke Hückstädt ist seit 2010 Leiter des Literaturhauses Frankfurt am Main. Der von ihm herausgegebene Band „LiES. Das Buch” wagt etwas ganz Neues: 13 bekannte Autorinnen und Autoren haben für diesen Sammelband Geschichten in Einfacher Sprache geschrieben, darunter Judith Hermann, Arno Geiger und Nora Bossong. Ein Interview darüber, warum Literatur in Einfacher Sprache für uns alle wichtig ist und wie soziale Teilhabe in der Kultur funktionieren kann.

1. Was ist für Sie Soziale Teilhabe?

Die leichthändige Anstrengung, niemanden auszuschließen.

2. Warum brauchen wir Literatur in Einfacher Sprache?

Viele Errungenschaften verdanken sich Vereinfachungen: Der Seilzug, das Fahrrad, der Traktor, ein Solarpanel. Literatur ist keine Droge, kein billiges Distinktionsmittel. Das sind Verklärungen von Kunst. Literatur sollte in allen Formen und Dosierungen für alle zur Verfügung stehen. So vielfältig wie wir Menschen.

3. Was macht barrierefreie Literatur aus?

Sie ist nicht simpel, nur weil sie probiert, einfacher zu sprechen. Regeln und das Brechen von Regeln sind die Bedingung von Kunst. Was eine Barriere darstellt, das ist ja etwas sehr Individuelles. Es gibt Beispiele von barrierefreier Literatur, die so schön, so klar, so direkt, so geheimnisvoll sind. Camus wusste nichts von Inklusion, dennoch beginnt „Der Fremde“ wie ein Lichtstrahl aus der Vorzeit. Für unser Projekt haben sich die Autorinnen und Autoren zehn Regeln für Literatur in Einfacher Sprache gegeben, zum Beispiel „Wir vermeiden Zeitsprünge“.

 

4. Zu dem Projekt gehört auch eine Veranstaltungsreihe im Literaturhaus. Inwiefern unterscheidet sie sich von anderen Lesungen?

Im Literaturhaus geht es grundsätzlich immer um Teilhaben, dabei sein, Nähe und Dissens. Bei diesen Veranstaltungen schreibe ich mir vielleicht auch einmal auf, was ich sagen möchte. Und ich spreche dann etwas vom Papier gestützt, phasenweise. Das hilft. Das begradigt auch das etwas korrumpierte krumme Alltagssprechen. Alles, was wir uns oft insgeheim wünschen, kommt hier etwas mehr zur Wirklichkeit: Dass jemand langsamer spricht, deutlicher liest, erst nachdenkt, dann antwortet oder einen Satz beendet, wenn eigentlich alles gesagt ist. Darüber hinaus werden die Veranstaltungen von Gebärdensprachdolmetscherinnen begleitet. Das ist auch visuell ein Gewinn. Insgesamt ist es klarer, mitteilsamer und kürzer.

5. Ist das Publikum ein anderes?

Wir skalieren unser Publikum nicht. Wir maßen uns nicht an, von außen zu beurteilen, ob Publikum anders ist. Ja, es gibt sich bekennende Gruppen oder Personen. Die sagen dann zum Beispiel, wir sind eine Gruppe Autisten. Das Besondere dabei ist, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Dass es Veranstaltungen sein möchten, die so wenig Menschen wie möglich ausschließen. Mir schien es immer sehr heterogen.

6. Literatur in Einfacher Sprache - sollten sich dafür nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen interessieren?

Sie sagen es. Literatur in Einfacher Sprache hat ganz viele Möglichkeiten und auch Niveaus. Sie ist für ganz viele gut. Erleide ich morgen einen Schlaganfall, werde ich nach der Reha sicher froh sein, nicht Bücher für Kinder im Erstlesealter lesen zu müssen, sondern bin beschenkt, wenn es eine Lovestory von Julia Schoch, ein Kriminalfall von Kristof Magnusson oder eine Fußballgeschichte von Christoph Biermann ist. Ähnlich ist es für Menschen, die Deutsch lernen oder die mit Literatur bislang so wenig zu tun hatten wie ich mit den Handfertigkeiten der Seidenstickerei.

7. Wie wird das Projekt weitergehen?

Derzeit schreiben zwölf Autorinnen und Autoren neue Texte. Das Buch dazu erscheint im März 2023 im Piper Verlag. Es gibt noch viele andere Ideen. Wir stehen am Beginn. Und mit diesem Ansatz, Literatur von zeitgenössischen, namhaften Autorinnen und Autoren in einfacher Sprache schreiben zu lassen, sind wir vermutlich weltweit einzigartig.

Weitere Informationen und die zehn Regeln für Literatur in Einfacher Sprache finden Sie unter:
https://literaturhaus-frankfurt.de/bildung-vermittlung/einfache-sprache/