Soziale Teilhabe – Assistenz bei Urlaubsreisen – Tragung behinderungsbedingter Mehrkosten
"Behinderungsbedingte Mehrkosten wie die Reisekosten einer notwendigen Begleitperson sind bei einem Erholungsurlaub vom Sozialhilfeträger zu übernehmen."
Orientierungssätze* |
1. Benötigt ein Mensch mit Behinderung bei einer Urlaubsreise die Begleitung durch eine Assistenzperson, kann ein Anspruch gegen den Sozialhilfeträger auf Übernahme der für diese entstehenden Reisekosten gegeben sein. |
2. Solche behinderungsbedingten Mehrkosten sind vom Menschen mit Behinderung so gering wie möglich zu halten. |
BSG, Urteil v. 19.5.2022, Az.: B 8 SO 13/20 R |
* Orientierungssätze auf Basis der Pressemitteilung Nr. 20/22 des Bundessozialgerichts v. 20.5.2022 |
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Der auf einen Rollstuhl angewiesene Kläger beschäftigt zu seiner Pflege rund um die Uhr drei Assistenten im Arbeitgebermodell. Die Kosten trägt der (vor dem Hintergrund der maßgeblichen alten Rechtslage) beklagte Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe (nach neuer Rechtslage: §§ 102 Abs. 1 Nr. 4, 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX). Der Kläger unternahm im Juli 2016 eine siebentägige Nordsee-Schiffsreise mit zwei Landausflügen. Die eigenen Reisekosten trug er selbst; die Reisekosten für einen Assistenten hingegen, der den Kläger zur Sicherstellung seiner Pflege begleitete, machte er gegenüber dem Beklagten geltend. Dieser lehnte die Kostenübernahme ab, Klage und Berufung blieben erfolglos.
Anders entschied das BSG in letzter Instanz: Als Leistung zur sozialen Teilhabe kommen auch Kosten in Betracht, die aus einem legitimen Teilhabebedürfnis des behinderten Menschen nach Freizeit und Freizeitgestaltung (vgl. § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB IX) und damit auch aus dem Bedürfnis nach einem Erholungsurlaub folgen. Allerdings ist das allgemeine Urlaubsbedürfnis nicht behinderungsbedingt, sondern besteht bei behinderten wie nicht behinderten Menschen in gleicher Weise. Kosten hierfür werden grundsätzlich nicht als Leistung der Eingliederungshilfe übernommen. Dagegen sind behinderungsbedingte Mehrkosten wie die Reisekosten einer notwendigen Begleitperson, mit denen der behinderte Mensch allein aufgrund seiner Behinderung konfrontiert ist, zu übernehmen, wenn sie vor dem Hintergrund seiner angemessenen individuellen Wünsche notwendig zum Erreichen der Leistungsziele sind und das Teilhabebedürfnis – hier nach Erholung – nicht bereits erfüllt ist.
Der Wunsch eines Menschen mit Behinderung, sich jährlich einmal auf eine einwöchige Urlaubsreise zu begeben, sei grundsätzlich angemessen und gehe nicht über die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfeberechtigten Erwachsenen hinaus. Das BSG hat allerdings das Verfahren an das LSG zurückverwiesen zur abschließenden Klärung der Frage, ob etwa weitere Reisen das entsprechende Teilhabebedürfnis bereits erfüllt haben und ob dem Kläger die Buchung einer anderen, im Wesentlichen gleichartigen Reise möglich gewesen ist, die geringere (oder keine) behinderungsbedingten Mehrkosten ausgelöst hätte.
Vorliegende Entscheidung erging zur alten Rechtslage (vor BTHG), die grundlegenden Erwägungen des BSG dürften auch für die neue Rechtslage gelten. Das BSG unterstreicht, dass auch eine Urlaubsreise als Form der Freizeitgestaltung ein legitimes soziales Teilhabebedürfnis darstellt. Auszugleichen sind danach jedenfalls behinderungsbedingte Mehrkosten wie die Reisekosten einer Begleitperson, sofern solche vor dem Hintergrund der angemessenen Wünsche des Menschen mit Behinderung notwendig sind. Dem hingegen sollen Urlaubskosten als solche grundsätzlich nicht übernommen werden müssen, weil das Urlaubsbedürfnis für behinderte und nicht behinderte Menschen gleichermaßen gelte. Abzuwarten bleibt insbesondere, ob die Entscheidungsgründe des BSG ggf. weitere Maßstäbe enthalten für die dem LSG u. a. aufgegebene Prüfung einer i. W. gleichartigen, in Bezug auf die behinderungsbedingten Mehrkosten günstigeren Reise.