Fokus auf Selbstbestimmung legen

Soziale Teilhabe älterer Menschen

Die Leistungen der sozialen Teilhabe, die das SGB IX grundsätzlich vorsieht, sind weit gefasst: Sie sollen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern. Leistungsberechtigte sollen zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum befähigt oder hierbei unterstützt werden. Das können beispielsweise Leistungen für Wohnraum, für Assistenz, zur Förderung der Verständigung oder zur Mobilität sein. Voraussetzung ist, dass andere Hilfen nicht in Betracht kommen und die Ziele der sozialen Teilhabe durch SGB-IX-Leistungen erreicht werden können.

Soweit die Theorie. Die Praxis sieht anders aus und gestaltet sich insbesondere für ältere Menschen mit Behinderung sehr viel komplizierter. Beim Träger der Eingliederungshilfe besteht ein Rechtsanspruch auf die Leistungen zur sozialen Teilhabe nur für Personen, die aufgrund einer geistigen, seelischen, körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigung wesentlich in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, an der Gesellschaft teilzuhaben. Bei anderen Behinderungen oder Schwerbehinderungen ist es eine Ermessensleistung.

Die meisten älteren Menschen mit Behinderung oder Schwerbehinderung gehören in der Regel nicht zum Personenkreis der Eingliederungshilfeberechtigten. Ist beispielsweise ein Mensch mit einer kognitiven oder schweren körperlichen Behinderung nicht in der Lage, den Haushalt möglichst selbstbestimmt zu führen und einzukaufen, besteht die Möglichkeit, im Rahmen der Eingliederungshilfe Unterstützung zu bekommen. Jemand, der im Rentenalter aufgrund einer beginnenden demenziellen oder schwereren körperlichen Beeinträchtigung nicht mehr in der Lage ist, Haushalt und Einkäufe alleine zu bewerkstelligen, wird auf die Pflege oder Hilfe zur Pflege verwiesen. Ihm bleibt also nur, den Weg über Leistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) zu gehen. Die Türe zu Leistungen der sozialen Teilhabe (SGB IX) bleibt für ihn in der Regel verschlossen. Wenn ältere Menschen erst einmal im Pflegeheim leben, unterscheiden sich die Angebote zur sozialen Teilhabe immens von denen, die in der Eingliederungshilfe möglich sind. Zwar gibt es begrenzte Angebote in der Pflegeeinrichtung selbst, aber schon eine persönliche Begleitung zu einer öffentlichen Veranstaltung oder zu einem privaten Besuch außerhalb der Pflegeeinrichtung wird zum Problem, wenn keine Angehörigen oder ehrenamtlichen Helfer zur Verfügung stehen. Die Abgrenzung der Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung ist nach wie vor kompliziert. Im Einzelfall prüft der Träger der Eingliederungshilfe individuell, ob ein Bedarf durch Leistungen der Pflege gedeckt ist oder gedeckt werden kann. Und erst, wenn hier kein Anspruch besteht, wird die soziale Teilhabe aktiv.

Leistungen der sozialen Teilhabe umfassen u. a. auch Leistungen zur Förderung der Verständigung, um Leistungsberechtigten mit Hör- und Sprachbehinderungen die Verständigung mit der Umwelt aus „besonderem Anlass“ zu ermöglichen oder zu erleichtern. Die Leistungen umfassen insbesondere Hilfen durch Gebärdensprachdolmetscher und andere geeignete Kommunikationshilfen wie Kommunikationsassistenten, Schriftdolmetscher etc. Der „besondere Anlass“ wird aber restriktiv ausgelegt. Es geht nicht um das allgemeine Kommunikationsbedürfnis oder dauerhaft zu erbringende Hilfen. Es handelt sich auch nicht um Kosten, die nicht-behinderten Menschen ebenso entstehen würden, sondern um einen besonderen Anlass zur Verwirklichung von Teilhabezielen. Das können z. B. besondere Familienfeiern sein oder eine wichtige Vertragsverhandlung.

Betroffene haben oft den Eindruck, dass der Aufwand für Antrag und Durchsetzung von Leistungen absichtlich hoch und kompliziert ist, damit erst niemand auf die Idee kommt, diese Leistung überhaupt zu begehren. Vor diesem Hintergrund schlägt der VdK vor, endlich ein ausreichend hohes und bundeseinheitliches Gehörlosengeld als vernünftigere und unkompliziertere Lösung für alle Beteiligten einzuführen.
Wenn ältere Menschen Leistungen zur Mobilität beantragen, um Selbstständigkeit und soziale Teilhabe zu erhalten, werden diese Anträge so gut wie immer abgelehnt.
Nur: Wie erklärt man einem schwerbehinderten Rentner mit Merkzeichen G, der seit vielen Jahren seine Ehefrau mit Pflegegrad III zu Hause pflegt, immer seinen PKW für Fahrten zum Arzt, zur Apotheke, zum Einkauf und für eine bescheidene soziale Teilhabe eingesetzt hat, dass die Gesellschaft für ihn keinerlei finanzielle Unterstützung vorsieht, wenn sein Wagen kaputt ist? Er hat keine Rücklagen für eine Reparatur. Das Ehepaar lebt auf dem Land. Selbst wenn es dort einen barrierefreien ÖPNV gäbe, wäre es ihm mit seiner Gehbehinderung kaum möglich, mit seiner Frau im Rollstuhl in die nächste Stadt zu gelangen. Diese und ähnliche Beschwerden gehen tagtäglich beim VdK ein. Mit der Ratifizierung der UN-BRK ist die Bundesrepublik verpflichtet, bestehende Teilhabebarrieren abzubauen und Teilhabemöglichkeiten zu fördern – unabhängig vom Alter. Es wird Zeit, den Fokus darauf zu richten, dass auch Ältere, die ihre Behinderung erst spät, in und nach einem langen Arbeitsleben erworben haben, das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und soziale Teilhabe haben.

Sozialverband VdK Deutschland e.V.
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