Persönliches Budget – kein rückwirkender Widerruf eines rechtmäßigen Leistungsbescheides
"Der Zweck einer Teilhabeleistung ändert sich nicht dadurch, dass diese als pauschale Geldleistung im Rahmen eines Persönlichen Budgets erbracht wird."
Orientierungssatz* |
Bei Leistungen der Eingliederungshilfe, die in Form eines Persönlichen Budgets bewilligt wurden, darf der rechtmäßig begünstigende Verwaltungsakt nicht wegen Zweckverfehlung mit Wirkung für die Vergangenheit widerrufen werden. |
BSG, Urteil v. 19.5.2022 - B 8 SO 3/21 R |
*Leitsätze des Gerichts bzw. Orientierungssätze/Entscheidungsgründe nach JURIS, redaktionell abgewandelt und gekürzt |
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Der 2003 geborene schwerbehinderte Kläger erhielt ab September 2012 ein Persönliches Budget (PB) der Eingliederungshilfe (EGH) nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX i. V. m. § 17 SGB IX a. F. Nach der Zielvereinbarung (ZV) war insb. „die zweckentsprechende Verwendung der Mittel […] durch die Vorlage der Abrechnungen des leistungserbringenden Vereins oder anderer Leistungserbringer nachzuweisen“. Die EGH stellte die Zahlungen ab Juni 2015 ein, da die Eltern des Klägers dieser Vereinbarung auch auf entsprechende Aufforderung nicht hinreichend nachgekommen seien. Darüber hinaus kündigte die EGH die ZV, widerrief den Bewilligungsbescheid des PB für den Zeitraum von September 2012 bis Mai 2015 nach § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X und forderte die gezahlten Leistungen nach § 50 Abs. 1 SGB X zurück. Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit seiner erfolgreichen Revision rügte der Kläger insb. die Verletzung von § 47 Abs. 2, § 45 Abs. 4 S. 2 und § 50 Abs. 1 SGB X.
Dem BSG zufolge scheidet insbesondere ein Widerruf der PB-Bewilligung nach § 47 Abs. 2 S. 1 SGB X aus. Ein solcher setzt voraus, dass originäre verhaltenssteuernde Zweckbestimmungen entweder im (Leistung) bewilligenden Verwaltungsakt (VA) oder in untergesetzlichen Regelungen festgehalten werden, die über die bereits im Gesetz bestimmten Zwecke hinausgehen. Dies ist nach BSG hier nicht der Fall. Denn der Zweck einer Teilhabeleistung, auf die ein (gesetzlicher) Anspruch besteht, ändert sich nicht dadurch, dass die Leistung als pauschale Geldleistung im Rahmen eines PB erbracht wird.
Die Leistung unterliegt bereits nach dem originären Gesetzeszweck ohne weitere Festlegungen im bewilligenden VA einer strikten Zweckbindung. Zwar muss die ZV zum PB v. a. auch Regelungen über die Erforderlichkeit eines Nachweises für die Deckung des festgestellten individuellen Bedarfs enthalten (§ 29 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 SGB IX). Die hier vereinbarte Verpflichtung des Nachweises der „zweckentsprechenden Verwendung der Mittel“ durch „Vorlage der Abrechnungen des leistungserbringenden Vereins oder anderer Leistungserbringer“ begründet laut BSG jedoch keine originäre Verhaltenspflicht nach § 47 Abs. 2 S. 1 SGB X, sondern stellt lediglich eine Konkretisierung des gesetzlichen Leistungszwecks dar. Vor allem erfolgt hierdurch keine Verlagerung der Verantwortung für die Erreichung der Eingliederungsziele auf den Leistungsempfänger i. S. eines eigenständigen Zwecks. Die Fragen zur Rechtsnatur einer ZV und ob Inhalte einer ZV durch Einbeziehung in den VA zu Nebenbestimmungen i. S. d. § 32 SGB X werden können, lässt das BSG (weiter) offen. Bloße Hinweise auf eine Rechtslage könnten mangels Regelungscharakters schon keine Nebenbestimmungen sein. Auch eine Umdeutung des angefochtenen Bescheids in eine Aufhebung des Bewilligungsbescheids nach § 48 Abs. 1 SGB X oder eine Rücknahme nach § 45 SGB X komme angesichts der Feststellungen der Vorinstanz nicht in Betracht.
Die mit vorliegender Entscheidung verbundene Konturierung rechtlicher Rahmenbedingungen von Verwendungsnachweisen im PB ist mit Blick auf § 29 Abs. 4 S. 2 Nr. 4 SGB IX von erheblicher Bedeutung für die Ausgestaltung der PB-Praxis. Allerdings erforderte auch der hier zugrunde liegende Rechtstreit noch keine abschließende Entscheidung zur Rechtsnatur von ZVen (vgl. Reha-Info 4/2021). Die konkreten Auswirkungen auf die Formulierung von Bewilligungsbescheiden und ZVen und mithin auf die Praxis bleiben abzuwarten.