"Anders sein, wie die Anderen auch."
Das Beispiel Anna-Freud-Schule, Köln
Als Dilara mit ihrer Physiotherapeutin vor dem Raum der Stufe 11 vorbeigeht, winkt ihr eine Mitschülerin durch das Fenster zu. Während die anderen dort mathematische Funktionen büffeln, ist sie auf dem Weg zu einer ihrer vielen Therapieeinheiten. Wie viele solcher Einheiten sie seit dem schweren Unfall im Sommer 2015 absolviert hat, kann die 18-Jährige nicht einmal mehr schätzen. Offenes Schädelhirntrauma, mehrere Monate im Krankenhaus, dann eine dreimonatige Rehabilitationsmaßnahme, an deren Ende die niederschmetternde Einschätzung stand: Weder schul- und ausbildungsfähig, noch arbeitsfähig!
Und tatsächlich scheitert der Versuch, wieder in ihrem alten Gymnasium Fuß zu fassen: Zu groß sind die Probleme mit der Konzentration, zu gering ist die Belastbarkeit, zu schwer fällt es der jungen Frau, sich an Wörter und Begriffe zu erinnern. Dazu kommen die vielfältigen Schmerzen, die sie immer noch plagen.
Dann kommt der Wendepunkt: im Internet stoßen Dilaras Eltern auf Informationen über die Anna-Freud-Schule in Köln. Kurz entschlossen fahren sie mit ihr den langen Weg von Süddeutschland ins Rheinland, und schnell steht der Entschluss fest: Hier möchte Dilara den Neustart wagen. Sie zieht in die Wohngruppe im Dietrich-Bonhoeffer-Haus und besucht ab dem Sommer 2016 die Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe der Anna-Freud-Schule, gemeinsam mit 27 Mitschülern, die Mehrheit davon mit sonderpädagogischemUnterstützungsbedarf im Bereich körperliche und motorische Entwicklung. Hier ist es ganz normal, dass sie integriert in den Schulalltag nicht nur Physiotherapie sondern auch Logopädie und Ergotherapie erhält. Hier nimmt sie mit ihren Bedürfnissen keine Sonderstellung ein.
An der LVR-Anna-Freud-Schule unterrichten Lehrer mit unterschiedlichstem Hintergrund, viele sind Sonderpädagogen, viele haben therapeutische, pädagogische oder fächerbezogene Zusatzqualifikationen. Alle Mitarbeiter arbeiten im Team und sind im ständigen Austausch, die Therapeuten geben den Lehrern viele konkrete Hilfen und Empfehlungen, wie sie die Schüler im Unterricht am besten fördern können. Bei Bedarf erhalten die Schüler auch individuelle Lernberatung oder psychotherapeutische Beratung.
Schnell fasst Dilara mit ihrem einnehmenden Wesen Fuß, sie fühlt sich wohl, hat Vertrauen zu den Lehrern und ist ein beliebtes Mitglied ihrer Jahrgangsstufe. Sie profitiert davon, dass die Kurse mit höchstens einem Dutzend Schülern im Durchschnitt kleiner als gewöhnlich sind. Das unterstützt die Zusammenarbeit unter den Schülern, so dass Dilara rasch Kontakt findet.
Dilaras schulische Leistungen sind noch sehr wechselhaft: Zum Teil schreibt sie außergewöhnlich gute Klausuren in Englisch und Philosophie. Ausgerechnet im sprachlichen Bereich kann sie glänzen, obwohl sie doch noch die Folgen einer Aphasie, einer expressiven Sprachstörung zu kompensieren hat. In Mathematik und Biologie verliert sie dagegen den Anschluss, doch auch hier wissen die Lehrer Rat. Gemeinsam mit den Therapeuten entwickeln sie für Dilara ein Modell mit Schreibverlängerungen, Strukturierungshilfen, weniger Fächern, mehr Therapien und individuellen Förderstunden.
Von dem Druck, mit einer Versetzung das Stufenziel zu erreichen, wird sie befreit, stattdessen bekommt sie die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten weiter zu aktivieren und ihre Schwierigkeiten zu kompensieren. Parallel zu der Möglichkeit, die Schullaufbahn fortzusetzen, arbeitet die Schule mit ihr an einer Berufs- und Lebensperspektive.
An der LVR-Anna-Freud-Schule kennt man sich mit den Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs bestens aus, die Individualisierung ist tägliche Praxis und man weiß für die Schüler den Spielraum zu nutzen, den die Ausbildungs- und Prüfungsordnung zulässt.
Dilara weigert sich zunächst, das Förderangebot anzunehmen: Sie will normal sein, und keine Sonderrolle spielen, in der sie nur ein Eingeständnis ihres Scheiterns sieht. Trotz pädagogischer Bedenken wird ihrem Wunsch stattgegeben. Doch schließlich wird der Leidensdruck zu groß, sie realisiert, dass Förderstunden und Therapien in ihrer momentanen Situation unerlässlich sind, um wieder leistungsfähiger zu werden und um den Alltag erfolgreich bewältigen zu können.
Die Konzeption und die Praxis der Anna-Freud-Schule machen es ihr leichter, diese Entscheidung treffen zu können, ohne dass ihr Selbstbewusstsein neuen Schaden nimmt: Das Anderssein ist hier normal, da die Ausnahme hier die Regel ist.
Auch ohne die Perspektive, am Ende des Schuljahres in die Qualifikationsphase überzugehen, arbeitet Dilara weiter hart. Sie schreibt sämtliche Klausuren mit, hält sich an alle Schülerpflichten, erledigt ihre Hausaufgaben und entschuldigt ihre Fehlzeiten, die zur Freude aller immer weniger werden.
Vor ihr liegt noch ein langer Weg, doch sie hat hier eine Perspektive. Sie ist schulfähig, und ihr Recht auf Bildung wird ernst genommen. Dafür ist sie gerne bereit, hart zu arbeiten. Wenn man Dilara beobachtet, kann man den Eindruck gewinnen, als würde stets ihr ganzes Gesicht strahlen, hier im Pavillon der Oberstufe der Anna-Freud-Schule, wo sie genau so anders sein darf, wie die Anderen auch.