Alltägliche Lebensführung
Was für viele Menschen selbstverständlich ist, nämlich ungehindert von A nach B zu gelangen, ist für viele Menschen mit Behinderungen alles andere als selbstverständlich. Der Weg zur Schule oder das Wohnen, das Einkaufen an der Theke beim Bäcker oder der Arztbesuch, sind Banalitäten und Routinen, über die viele Menschen nicht mal nachdenken müssen. Bei Menschen mit Behinderungen sind sie eine tägliche Herausforderung. Dabei stehen Barrieren im Vordergrund, die den Betroffenen bei der Durchführung von Handlungen und Aktionen im Alltag behindern. Menschen mit Behinderungen sind dann in ihrer Teilhabe eingeschränkt, wenn sie Dienstleistungen, Objekte und Gegenstände aufgrund ihrer Gestaltung nicht bedienen, nicht erkennen oder nicht nutzen können. Immer noch steckt der Alltag voller Hindernisse. In Cafés und Bars sind die Toiletten häufig noch im Keller und für den Rolli-Fahrer nicht zu erreichen. Bescheide von Behörden sind für blinde Menschen nicht lesbar. Und wenn dann mal der Zugang zu öffentlichen Gebäuden barrierefrei ist, fehlt es häufig an Fahrstühlen und Rampen im Gebäude. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Zwar wird für die barrierefreie Umweltgestaltung mittlerweile Einiges getan, aber was ist, wenn an der barrierefreien U-Bahn-Station der Aufzug nicht funktioniert?
Menschen mit Behinderungen sind durch solche Umweltbedingungen in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt. Oft ist bereits ihre Sozialisation fremdbestimmt: Eltern, Schule, Behinderteneinrichtungen – bei der Organisation des Alltags weiß immer jemand, was gut für den behinderten Menschen ist. Das ist laut Teilhabebericht der Bundesregierung auch oft die Wahrnehmung der betroffenen Menschen mit Behinderungen.
Welcher Bereich? | Wie sollte der Bereich ausgestattet werden? |
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Wohnen | Wohnangebote müssen so gestaltet sein, dass Menschen mit Beeinträchtigungen die gewünschte Wohnform und ihren Wohnort frei wählen können. In diesem Zusammenhang ist auch das Angebot an barrierefreien Wohnmöglichkeiten relevant. |
Barrierefreiheit | Eine weitere notwendige Bedingung für eine selbstbestimmte Lebensführung ist Barrierefreiheit im Hinblick auf den öffentlichen Raum, Mobilität, Information, Kommunikation und Beratungsleistungen. |
Inanspruchnahme von Unterstützung | Es müssen, angelehnt an den individuellen Bedarf, ausreichend Unterstützungsangebote und Möglichkeiten für eine selbstbestimmte Lebensführung zur Verfügung stehen. |
Fehlende Freiräume
Laut Teilhabebericht sind 15 % der Menschen mit Beeinträchtigungen der Ansicht, dass andere über ihren Alltag bestimmen. Das sind 5 % mehr als in der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Der Teilhabebericht der Bundesregierung sagt nicht, wie Menschen mit Beeinträchtigungen ihr Leben gestalten sollen, gleichwohl beschreibt er 3 Bereiche in denen die Rahmenbedingungen stimmen sollten, siehe Tabelle 1.
Aber was sagt uns der Teilhabebericht neben der Kategorisierung? Zunächst einmal: Menschen mit chronischen Erkrankungen gehen öfter zum Arzt, zur Therapie oder zur Anwendung. Umso wichtiger ist es dann, dass die Zugänglichkeit zu diesen Räumlichkeiten z. B. für Menschen mit Bewegungseinschränkungen gewährleistet ist. Individuelle Möglichkeiten zur Gestaltung des Lebens und der Entwicklung sind noch nicht ausreichend oder können nicht genutzt werden. Und die Biografien von Menschen mit Behinderungen sind noch viel zu oft vorgezeichnet: Sondereinrichtungen, Werkstätten, Heimunterbringung.
Selbstbestimmte Lebensführung
Insgesamt besteht für Menschen mit Behinderungen in allen Belangen ein besonders großes Risiko, dass ihre Freiräume eingeschränkt sind. Wenn die soziale, berufliche, medizinische und kulturelle Infrastruktur nicht oder nur erschwert zugänglich und nutzbar ist, ist ein – für andere alltägliches – Leben kaum möglich. Von einer selbstbestimmten Lebensführung in einer komplexeren, von Individualisierung geprägten Welt ganz zu schweigen. Insgesamt kommt es bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besonders auf 2 Faktoren an: Die individuellen Beeinträchtigungen des jeweiligen Menschen einerseits und die Gestaltung des öffentlichen Raums in Form von Zugang und Nutzbarkeit andererseits. Menschen müssen im Alltag agieren. Sie gehen einkaufen, arbeiten oder zum Arzt. Wenn diese Alltagshandlungen nur eingeschränkt möglich sind, dann wird schnell deutlich, warum bei Menschen mit Beeinträchtigungen die „Lebensführung“ oder „Lebensgestaltung“ nur mit Mühen zu bewältigen ist. Da trifft doch eher das Wort „Lebensbewältigung“ zu. Gerade für Menschen mit Behinderungen ist die Bewältigung des Alltags eine Frage des „Überlebens“. Die individuelle Lebenswelt und der Sozialraum werden mit den verfügbaren Mitteln – soweit möglich – auf die persönlichen Belange zugeschnitten. Oftmals gibt es aber Grenzen.
Der Ausschuss ist besorgt darüber, dass die von dem Vertragsstaat getroffenen Maßnahmen zum Abbau der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Menschen psychosozialen und / oder geistigen Behinderungen, wirkungslos geblieben sind. |
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Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat, in Abstimmung mit den Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, |
■ eine Strategie zur Bewusstseinsbildung und zur Beseitigung der Diskriminierung zu entwickeln und dabei sicherzustellen, dass ihre Erarbeitung und Umsetzung auf wissenschaftlich fundierter Grundlage erfolgt, dass ihre Wirkung messbar ist und dass die öffentlichen und privaten Medien beteiligt werden, |
■ sicherzustellen, dass bewusstseinsbildende und menschenrechtsbasierte Schulungsprogramme für alle an der Förderung, dem Schutz und / oder der Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen beteiligten öffentlichen Bediensteten bereitgestellt werden. |
Quelle: Auszug aus dem ersten Staatenbericht der Vereinten Nationen über die Umsetzung |
der UN-BRK in Deutschland, 2015. |
Alltägliche Barrieren
Dies betrifft Bahnsteige, die je nach Bundesland und Art des Zugs mal barrierefrei sind, mal aber auch nicht. Es trifft Regelungen zur Barrierefreiheit in Unternehmen oder die täglichen Einschränkungen im Bereich der Kommunikation mit Behörden und Verwaltungen. Leider betrifft es auch noch viel zu häufig die Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts. Behinderungen führen zu vielfältigen individuellen Beeinträchtigungen im Alltag. Sie sind je nach individueller Behinderung sehr unterschiedlich. Für kleinwüchsige Menschen oder Rolli-Fahrer kann es beispielsweise bereits schwierig sein die Etagenknöpfe im Aufzug zu erreichen. Entscheidend für Verbesserungen ist die Bewusstseinsbildung – in der Politik, in der Gesellschaft bei jedem Einzelnen vor Ort. Der Bericht über die Umsetzung der UNBRK attestiert Deutschland beim Thema Bewusstseinsbildung noch ein Defizit (siehe
Kasten).
Festzuhalten bleibt – auch 9 Jahre nach der UN-Behindertenrechtskonvention, 13 Jahre nach Vorlage der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) in deutscher Sprache und dem inzwischen zweiten Teilhabebericht der Bundesregierung – dass wir von einer breiten Sensibilisierung der Gesellschaft für die Belange von Menschen mit Behinderungen und ihre alltäglichen Beeinträchtigungen noch weit entfernt sind. Obwohl über 9,5 Millionen Menschen in Deutschland mit Behinderung leben, ist deren alltägliche Lebensführung oft ein einziger Hindernislauf. Aber die Bewältigung des Alltags ist die Grundlage der Lebensgestaltung. Gerade für Menschen mit Behinderungen ist dies ein Aspekt der Identität, der Kontinuität und der Autonomie persönlicher Existenz. Ob das neue SGB IX seinen Anspruch an mehr Autonomie und Teilhabe des Einzelnen in der Gesellschaft einhält, bleibt abzuwarten.