Selbstbestimmung als Ziel von Rehabilitation
„Ich möchte wieder alleine und ohne fremde Hilfe auf die Toilette gehen können“, „kurz mal in die Stadt fahren“ oder „zuhause wohnen“. Bedürfnisse von Rehabilitanden und Menschen mit chronischen Erkrankungen klingen häufig wie Selbstverständlichkeiten. Meist sind es alltägliche Aktivitäten, die durch Unfall oder Erkrankung unmöglich wurden und so die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen dauerhaft einschränken.
Laut dem zweiten Teilhabebericht der Bundesregierung (2016) sind hierzulande etwa 17 Millionen Menschen von chronischen Erkrankungen oder dauerhaften Beeinträchtigungen betroffen. Wie viele davon nicht selbstbestimmt leben können, kann nicht genau gesagt werden. Selbstbestimmung ist ein zentrales Ziel, wenn es um Menschen mit Behinderungen und die Verwirklichung ihrer Rechte in unserer Gesellschaft geht. Bereits im Titel des Gesetzes zur „Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“, kurz: BTHG, nimmt die „Selbstbestimmung“ eine zentrale Position ein. Nicht weniger als 29 direkte Bezüge zum Begriff der „Selbstbestimmung“ hat der Gesetzgeber im Gesetz und dessen Begründung hergestellt. „Selbstbestimmung“ und „gleichberechtigte Teilhabe“ sind zwei Seiten derselben Medaille.
Hintergrund und Bedeutung
Seinen Ursprung findet die „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“ in den Vereinigten Staaten. Menschen mit Behinderungen wollten in den 1960er Jahren nicht mehr länger durch Staat und Gesellschaft benachteiligt oder bevormundet werden. Von „Abschiebung“ in Anstalten und Einrichtungen ganz zu schweigen. Erstmals erhoben sich in vielen Teilen der Welt breite Teile der Bevölkerung (mit Behinderungen), um sich aus der Abhängigkeit von Institutionen zu lösen. Ihr Ziel ist damals wie heute aktuell: die eigenständige und selbstbestimmte Lebensführung aller Menschen mit Beeinträchtigungen – ohne Ausnahmen.
Für die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. V. (ISL) heißt selbstbestimmtes Leben, Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Wahlmöglichkeiten zwischen akzeptablen Alternativen sind Voraussetzungen, um die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags zu minimieren. Das schließt das Recht ein, seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können, am öffentlichen Leben in der Gemeinde teilzuhaben, verschiedenste soziale Rollen wahrzunehmen und Entscheidungen selbst fällen zu können, ohne dabei in die psychologische oder körperliche Abhängigkeit anderer zu geraten. Selbstbestimmung ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich bestimmen muss.
Selbstbestimmung in der Gesellschaft
Gesamtgesellschaftlich ist das Selbstbestimmungsrecht ein Kernprinzip in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jedem Menschen kommt das Recht zu, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten, seine eigenen Angelegenheiten frei und ohne die Einmischung anderer Menschen oder des Staates zu gestalten – soweit nicht die Rechte anderer oder die anerkannten Regeln der Gemeinschaft verletzt werden“. In Deutschland wird das Recht auf Selbstbestimmung vor allem durch Artikel 2 des Grundgesetzes geschützt. Jedem Menschen wird darin das Recht auf die „freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ garantiert. Mit dem BTHG geht es dem Gesetzgeber – in Anlehnung an die UN Behindertenrechtskonvention – um die Verwirklichung von Menschenrechten durch gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben.
Aktive Beteiligung im Reha-Prozess
Abseits von konzeptioneller Mitarbeit in Gremien, Ausschüssen und Arbeitsgruppen, müssen den Menschen mit Behinderungen insbesondere im Reha-Prozess Möglichkeiten der Mitwirkung und Partizipation zur Verfügung gestellt werden. Neben Teilhabe ist Selbstbestimmung hier das Ziel aller Beteiligungsformen und -arten. Dabei ist Reha vieles und vielseitig, aber sie sollte nie als einseitiger direktiver Prozess von professionellen Akteuren verstanden werden. Vielmehr geht es zu jeder Zeit um Akzeptanz, Wertschätzung und Respekt gegenüber dem Menschen, aber auch um die Mitwirkung seinerseits. Nur durch einen gemeinsamen Verständigungs- und Entwicklungsprozess zwischen den Reha-Fachkräften und dem Leistungsberechtigten kann Selbstbestimmung als Ergebnis von Rehabilitation entstehen. Die konsequente Beachtung der individuellen Perspektive eines Menschen macht es möglich, dass dieser am gesamten Reha-Prozess teilnimmt. Dafür ist die Einbeziehung der Rolle und der Sichtweise des Menschen mit Behinderungen zentral – von der Erkennung des Bedarfs über die Planung von Leistungen bis zu Nachsorgeaktivitäten. Selbstbestimmt Leben setzt einen partizipativen Reha-Prozess voraus. Dazu brauchen Leistungsberechtigte Informationen und Unterstützung beim Verstehen von Materialen, Vordrucken und Assessments. Nur gute und umfassende Beratung schafft die Grundlage, um Wahlmöglichkeiten in Form von Alternativen zu identifizieren. Ziele sollten gemeinsam entwickelt werden und Selbstauskünfte zentraler Bestandteil jeder Bedarfsermittlung sein. Während der Durchführung einer Leistung bedeutet Selbstbestimmung auch Mitbestimmung bei Versorgung, Unterbringung, Behandlung und Therapie, auch im psychiatrischen Sektor.
Jeder Mensch hat ein Recht auf Selbstbestimmung – mit oder ohne Behinderung.
„Mehr“ Mitwirkung und Beteiligung im Reha-Prozess, z. B. durch… |
Assistenzleistungen (§ 78 SGB IX) zielen auf eine eigenständige und selbstbestimmte Alltagsbewältigung und Tagesstrukturierung. Sie gibt Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, ihr Leben (Haushalt, Körperpflege) nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Assistenzkräfte können aber auch bei Behördengängen unterstützen. Die Menschen mit Behinderung wählen ihre Assistenten selbst aus. Sie äußern Wünsche und bestimmen Dauer, Ort und Umfang der Unterstützung. |
Die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) unterstützt und berät Menschen mit Behinderungen, aber auch deren Angehörige unabhängig und unentgeltlich bundesweit rund um Rehabilitation und Teilhabe. Sie ist ausschließlich dem Leistungsberechtigten verpflichtet und kann bereits vor der Stellung eines Antrags in Anspruch genommen werden. |
Bei einer Teilhabeplanung (§ 19 SGB IX) geht es darum, Bedarfe zu ermitteln und gemeinsam abzustimmen. Damit ist das Ziel verbunden, eine Leistungserbringung „wie aus einer Hand“ sicherzustellen. Sie ist immer dann durchzuführen, wenn mehrere Reha-Träger zuständig sind oder Leistungen aus verschiedenen Leistungsgruppen zu gewähren sind oder sich der Leistungsberechtigte die Durchführung wünscht. |
Das Persönliche Budget steht für den Ansatz, dass Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben in eigener Verantwortung führen können. Teilhabeleistungen werden in Form von Geldleistungen erbracht, die der Leistungsberechtigte in eigener Verantwortung und Regiekompetenz organisiert. |
Wunsch- und Wahlrecht: Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen (§ 8 SGB IX). Dabei werden die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse des Leistungsberechtigten berücksichtigt. |