Teilhabe und Digitalisierung
Eine Klinikärztin sucht für ihren Patienten, der gerade eine schwere Herz-OP hinter sich hat, einen Versorgungsplatz in einer Anschlussheilbehandlung (AHB). Sie tippt das Patientenprofil ein und sieht im Computer, wie in Echtzeit eine Liste mit Rehaeinrichtungen entsteht, die für das geplante Startdatum der AHB in Frage kommen. Eine Anfrage wird elektronisch an die Einrichtungen geschickt, die diese annehmen oder ablehnen können. Aus den Optionen, die sich daraus ergeben, kann jetzt eine Einrichtung gewählt werden, allen anderen wird automatisch abgesagt. Verschlüsselte Kommunikation ermöglicht den Austausch zwischen Krankenhaus, Krankenkasse und Rehaeinrichtung über den Fall und die Übermittlung von Dokumenten. Die AHB des Patienten beginnt nahtlos nach dem Krankenhausaufenthalt. Dieses Szenario ist nicht Zukunftsmusik, sondern ein Pilot-Projekt, das zurzeit von mehreren Krankenkassen durchgeführt wird. Digital zur Anschluss-Reha – das verspricht weniger Bürokratie und mehr Zeit für den Patienten.
Hintergrund und Bedeutung
Egal ob Sprechstunden per Videochat, digitale Krankenakte oder das e-Rezept direkt auf dem Smartphone - generell begrüßen medizinische Fachkräfte die Digitalisierung für ihren Bereich, versprechen sie sich doch dadurch eine bessere Patientenversorgung bei gleichzeitiger Entlastung im Arbeitsalltag. Laut einer aktuellen Studie von Deloitte, „Digitale Transformation - Wo steht das deutsche Gesundheitswesen?“ (2020) sehen 86 Prozent großes Potenzial in den verschiedenen digitalen Technologien. Dennoch kommen sie bisher nur langsam zum Einsatz: Die Einführung neuer Lösungen scheitert oft an bürokratischen Hürden (61 Prozent), hohen Kosten (57 Prozent) und der Auswahl der passenden Technologie (42 Prozent). Einige der Hürden wurden in den letzten Monaten beseitigt: Die Corona-Pandemie hat bei immerhin 40 Prozent der medizinischen Einrichtungen spürbar als Digitalisierungsbeschleuniger gewirkt.
Digitalisierung spielt eine immer größere Rolle im Gesundheitswesen und damit auch in der medizinischen Rehabilitation. Digitale Medien sind aber auch wichtig, wenn es um gesellschaftliche Teilhabe geht. Social Media, Plattformen für Meinungs- und Informationsaustausch oder digitale Freizeitangebote aller Art erreichen und verbinden mehr Menschen denn je, und das gilt auch für Menschen mit Beeinträchtigungen. Das zeigt unter anderem eine Online-Umfrage der Aktion Mensch (www.einfach-fuer-alle.de/studie), die herausgefunden hat, dass Menschen mit Behinderung überdurchschnittlich stark im Web aktiv sind. Demnach sind Menschen ohne Behinderung an etwa 5,1 Tagen pro Woche im Internet, bei Menschen mit einer Behinderung sind es rund 6,5 Tage pro Woche.
Die zunehmende Digitalisierung verändert jedoch nicht nur das soziale und gesellschaftliche Miteinander, sondern auch unsere Arbeitswelt und damit die Teilhabe am Arbeitsleben. Das ermöglicht Menschen mit Behinderungen neue Chancen: So wird die Ortsgebundenheit von Arbeit immer weniger. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sieht darin laut einem Forschungsbericht Vorteile für Menschen mit körperlichen und Sinnesbehinderungen, in dem zum Beispiel im Home Office gearbeitet werden kann und Arbeitsergebnisse per Internet übermittelt werden können. Zudem gäbe es durch die Digitalisierung neue technische Möglichkeiten der Kompensation von Beeinträchtigungen sowie der individuellen Anpassung des Arbeitsplatzes an behinderungsbedingte Bedarfe (siehe Forschungsbericht 467 „Chancen und Risiken der Digitalisierung der Arbeitswelt für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung“).
Die Zeichen der Zeit hat auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erkannt: Mit der Förderrichtlinie „Inklusion durch digitale Medien in der beruflichen Bildung“ unterstützt das BMBF aktuell 18 Projekte, die dabei helfen sollen, Menschen mit Behinderungen durch den innovativen Einsatz digitaler Medien beim Erlernen und langfristigen Ausüben einer beruflichen Tätigkeit zu unterstützen.
Bei aller Begeisterung für neue Technologien, müssen jedoch auch die Risiken der neuen digitalen Welt sorgfältig betrachtet werden. Denn durch die Digitalisierung können neue Barrieren entstehen. Das fängt schon damit an, dass nicht alle Menschen technisch gut ausgestattet sind. Gerade Menschen mit Beeinträchtigungen muss jedoch der freie Zugang zu digitalen Medien ermöglicht werden. Eine weitere Barriere ist oft auch die geschriebene Sprache in digitalen Medien – wenn sie zum Beispiel für Menschen mit einer Lernbehinderung zu schwierig ist oder Texte nicht von Screen-Readern für sehbehinderte Menschen erfasst werden können. Sehbehinderte Menschen können zudem auch durch sogenannte „Virtual Reality“- Formate, die immer mehr in Ausbildungsberufen als virtueller Lernraum genutzt werden, von Teilhabe ausgeschlossen werden. Menschen mit einer Hörbehinderung sind wiederum bei Videokonferenzen benachteiligt, da ihnen dort das Lippenablesen nicht möglich ist. Dies sind nur einige konkrete Hürden, die es für Menschen mit Beeinträchtigungen in Zusammenhang mit Digitalisierung gibt. Ein generelles Problem dabei: Technische Entwicklungen sind heutzutage oftmals so rasant, dass überall dort, wo nicht von Anfang an barrierefrei gedacht wird, ein barrierefreies „Nachrüsten“ oft nicht schnell genug stattfindet und mit hohem Aufwand und hohen Kosten verbunden ist.
Dass es in Deutschland trotz Bemühungen zu Digitalisierungshemmnissen kommen kann, zeigt sich am Beispiel der Corona-Warn-App, die seit Juni genutzt werden kann. Eine solche Warn-App könnte ein gutes Beispiel sein für digitale Prävention. Und immerhin rund 16 Millionen Menschen nutzen die App mittlerweile aktiv. Doch funktioniert das System noch lange nicht so, wie es theoretisch könnte, was unter anderem daran liegt, dass durch technische Umstände nur 60 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer, die positiv getestet wurden, sich über die App melden. Zudem kam es vor allem zu Beginn auch immer wieder zu unverständlichen Mitteilungen und Fehlermeldungen. Datenschützer haben die deutsche App von Beginn an gelobt, doch die Startschwierigkeiten haben das Vertrauen der Bevölkerung in dieses Medium nicht unbedingt gestärkt. Eine Weiterentwicklung soll jetzt helfen, die Corona-Warn-App benutzerfreundlicher zu machen.
Ein kurzer Blick über den Tellerrand zeigt, dass Corona-Apps in den Ländern Nordeuropas erfolgreicher sind, wo die Menschen anscheinend neuen Technologien offener gegenüberstehen und ihrer Regierung stärker vertrauen. So ist das finnische „Corona-Flash“ schnell die beliebteste Warn-App in Europa geworden: Mehr als die Hälfte der Finnen haben die App mittlerweile auf ihr Smartphone seit der Veröffentlichung im September heruntergeladen. Sie ist damit zentraler Bestandteil eines effektiven Systems für Tests und die Nachverfolgung von Ansteckungsketten.
Die Digitalisierung stellt uns alle vor Herausforderungen: Wo machen Digitalisierungsprozesse in den Bereichen Rehabilitation und Teilhabe Sinn? Wann muss der digitale Fortschritt vorangetrieben und wann mit Bedacht umgesetzt werden? Wo kommt es zu Barrieren für oder sogar Ausgrenzungen von Menschen mit Beeinträchtigungen? Und wo müssen auch in einem Bundesteilhabegesetz „Brücken und Hilfestellungen geschafft werden, damit auch niemand in der digitalisierten Welt abgehängt wird“ wie Dr. Edlyn Höller, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin der DGUV, in einem Beitrag der BAR-Festschrift „Teilhabe braucht Rehabilitation“ fordert. Das alles sind Fragen für eine inklusive Zukunft auf die wir immer wieder Antworten finden müssen.