„Reha für Menschen braucht engagierte und sich abstimmende Leistungsträger“

Vom Gesetz zur Alltagswirklichkeit

„Reha für Menschen braucht engagierte und sich abstimmende Leistungsträger“ – so hatte es Prof. Dr. Katja Nebe, Juristin und Studiendekanin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, im Dezember 2019 bei ihrem Vortrag vor der Mitgliederversammlung der BAR formuliert. Sie greift damit eine – für die Umsetzung des damals gerade in Kraft getretenen BTHG – zentrale Anforderung an die Reha-Träger auf.

Seit den 1970er-Jahren hat es unter der Überschrift „Leistungen wie aus einer Hand“ immer wieder Vorstöße des Gesetzgebers für eine bessere Abstimmung und Zusammenarbeit der Reha-Träger und zur Regelung ihrer Schnittstellen im Leistungsgeschehen gegeben.

Neuer Anlauf mit dem BTHG

Mit dem BTHG hat der Gesetzgeber in 2017 klare Zeichen gesetzt: Fokussierung auf die Menschen, umfassende Bedarfsermittlung für eine bestmögliche Teilhabe, Personenzentrierung, Verbindlichkeit für die Zusammenarbeit der Reha-Träger, Stärkung der BAR als gemeinsame Plattform der Träger.
Dabei hat das BTHG nicht unbedingt neue Vorschriften eingeführt, sondern bereits vorhandene Regelungen geschärft und verbindlicher gemacht, weil die bisherige Umsetzung nicht zufriedenstellend gelaufen ist.

Dass die Umsetzung der abstrakten rechtlichen Normen in Organisation und täglichem Tun alles andere als einfach sein wird, war bekannt. Und ebenso war klar, dass die Vorschriften nur dann erfolgreich sein können, wenn sie in der Praxis gelebt werden. Wie ernst es dem Gesetzgeber dieses Mal war und ist, zeigt letztlich auch die Einführung des Teilhabeverfahrensberichts: Die Angaben aller Reha-Träger zu 16 Sachverhalten liefern nunmehr wichtige Erkenntnisse über die Umsetzung der Regelungen. Im Gesetzgebungsverfahren selbst wurde auch nicht verkannt, dass es Zwänge in der Praxis gibt. Welchen Einfluss aber kluge Ideen aus der Praxis auf Gesetzgebungsverfahren haben, hat das BTHG auch gezeigt: Das Budget für Arbeit und dessen nun gesetzliche Verankerung ist dafür doch ein gutes Beispiel. Wenn derlei Veränderungen und „Grenzüberschreitungen“ möglich sind, ist dies ein klares Zeichen für ein kluges Zusammenwirken von Gesetz und Praxis.

Von der Norm zur Alltagswirklichkeit

Nicht nur auf den Normenbestand kommt es an, sondern vor allem auf die Rechtswirklichkeit. Im Klartext heißt das: Die Aufgaben können nicht nur juristisch angegangen werden, sondern brauchen ein hohes Engagement für die Menschen, um die es geht. Damit die gesetzlichen Vorschriften ihre Wirkung erzielen, müssen sie in Alltagsrecht übersetzt und praxistauglich ausgestaltet werden. Auslegungen von rechtlichen Regelungen und Gestaltungsspielräumen erfordern neben einer hohen Fachlichkeit auch die kreative Nutzung der eigenen Möglichkeiten und weniger den Schutz der eigenen Grenzen. Teilhabeorientierung fordert eindeutig einen Perspektivwechsel über den eigenen Trägerbereich hinaus und in das System. Die Erwartungen gehen heutzutage ganz eindeutig in Richtung einer bürgernahen Verwaltung – Entbürokratisierung war und  ist auch ein Maßstab für Reha und Teilhabe und das aus beiden Blickwinkeln: Menschen mit Unterstützungsbedarf müssen nicht – es sei denn sie wollen – wissen, wie interne Verwaltungsverfahren bei und zwischen den Trägern ab lau fen. Sie haben Anspruch auf einen möglichst unkomplizierten Zugang zu den Leistungen.

Verwaltungsökonomie und Vereinfachung sind auch aus dem Blickwinkel der Reha-Beraterinnen und Reha-Berater vor Ort zu sehen: Vorhandene Motivation und Neugier auf neue Regelungen ist eine wertvolle Grundhaltung gegenüber Neuem. Wenn sich die Übersetzung von Normen in Alltagsrecht allerdings eher durch allzu hohe Komplexität als durch Pragmatismus auszeichnet, dann wird der damit verbundene bürokratische Aufwand vor Ort kaum leistbar und wirkt eher demotivierend.

 

Guter Weg...

Man kann den Reha-Trägern nur zustimmen, dass sie sich trotz aller Skepsis gegenüber mancher Vorschrift mit Engagement und hoher Bereitschaft auf den Weg gemacht haben, das BTHG umzusetzen und den Zugang zu Reha-Leistungen zu vereinfachen. In diesem Kontext ist ganz bestimmt die jüngste Entscheidung der Reha-Träger mit großer Unterstützung der Sozialpartner BDA und DGB zu sehen, im Rahmen eines vom BMAS geförderten Projektes bei der BAR einen „Gemeinsamen Grundantrag für Reha- und Teilhabeleistungen“ zu entwickeln. Dieses Projekt ist zum 1. Mai 2023 gestartet.

Eine weitere Chance auf Reduzierung von Komplexität und Vereinfachung besteht, wenn es um die bald anstehende Überarbeitung der Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess geht. Die mit den Neuregelungen im SGB IX in 2018 fortgeschriebene GE Reha-Prozess sollte als handlungsleitend für alle Reha-Träger gelten. Ein Blick in die derzeitige Alltagswirklichkeit zeigt einen anderen Befund:
Anstatt die trägerübergreifend getroffenen Vereinbarungen beispielsweise zur Teilhabeplanung, zur Dokumentation eines Teilhabeplans umzusetzen, ist immer noch die Parallelneigung zu beobachten, zusätzlich eigene Instrumente zu entwickeln.

...aber noch Luft nach oben

Obwohl jedem, der sich im Bereich von Teilhabe und Rehabilitation bewegt, klar ist, wie wichtig Zusammenarbeit für den Erfolg von Rehabilitation ist, so ist doch festzustellen, dass sektorielles Denken und Handeln immer noch sehr ausgeprägt sind.

In Bezug auf trägerübergreifend geltende Regelungen fällt das Urteil über deren Umsetzung deshalb eher „zufriedenstellend“ aus. Dabei geht es doch um den täglichen Versuch, wie eine Norm verstanden und durch Verfahren „gelebt“ wird. Wenn aber das, was zu tun ist, schon unterschiedlich ausgelegt wird und auch das „Wie“ der Umsetzung in die Praxis von jedem Trägerbereich unterschiedlich gestaltet wird, kann das Ganze nicht funktionieren. Hier braucht es gemeinsames Nachdenken und am Ende gemeinsam getragene und vor allem gelebte Ergebnisse.

Leider lassen sich in der Praxis auch immer noch fehlende Vernetzung und Kenntnisse übereinander und auch „technokratische Auswüchse“ anstatt möglichst unbürokratischer Formate feststellen, etwa bei der Ausgestaltung von Teilhabeplanverfahren und Teilhabeplankonferenz. Dass die Anzahl trägerübergreifender Teilhabepläne und Teilhabeplankonferenzen laut THVB 2022 im Promille-Bereich liegt, mag auch darin begründet sein.

Perspektive „Personenzentrierung“

Um sich hierbei leichter zu tun, hilft es sicherlich, den Blick auf den Menschen mit Beeinträchtigungen und auf eine Lebenslagenperspektive auszurichten – wie es die Eingliederungshilfe bereits praktiziert – und weniger auf ein Verständnis von Rehabilitation als Akutereignis. Personenzentrierte Leistungen können nur aus einer umfassenden Ermittlung von den Bedarfen einer Person in einem bestimmten Kontext entstehen. Sie müssen erkannt und in einem abgestimmten und zielgerichteten Handeln der Reha-Träger positiv gelöst werden. Neben der Beantwortung der Frage, was ein Träger selbst leisten darf bzw. zu leisten hat, besteht die Pflicht einer umfassenden und koordinierten Ermittlung aller Bedarfe eines Menschen mit Behinderung. Diese Lebenslagenperspektive beinhaltet ein teilhabeorientiertes Vorgehen, das nicht nur und ausschließlich den aktuellen Bedarf im Blick hat. Nichts anderes meint „den Menschen in den Mittelpunkt stellen“. Dass dies nur unter Beteiligung der Person selbst erfolgen kann, erschließt sich und erklärt die Bedeutung von Partizipation.

Wenn sinnvolle Vorschriften durch ihre Ausgestaltung zu kompliziert werden, dann wird Recht zu einem Hindernis bei der Inanspruchnahme notwendiger Leistungen. Für Menschen mit Behinderung stellen allzu komplexe Verfahren im Reha- und Teilhaberecht oft unüberwindbare Barrieren dar und be- oder sogar verhindern ihre Partizipation und damit die Beachtung grundgesetzlich verankerter Rechte.

Halbzeit

Es wird schätzungsweise 10 Jahre dauern, bis die Umsetzung der Verfahrensvorschriften geschafft ist. Zu dieser Einschätzung kam Katja Nebe in ihrem bereits genannten Vortrag. Diese Einschätzung würdigt den hohen Anspruch, den das BTHG an die Reha-Träger stellt. Fünf Jahre sind nun um, alle Akteure haben Erfahrungen gesammelt, mit dem THVB liegen von 1.268 Reha-Trägern belastbare Angaben vor, die nicht nur Auskunft über den aktuellen Stand im Leistungsgeschehen geben, sondern auch Entwicklungen aufzeigen und Vergleiche ermöglichen.

Die Halbzeitbilanz zeigt positive Entwicklungen auf, sie legt aber auch Handlungsbedarfe offen. In ihrem Beitrag kommt Julia Hauffen (siehe Artikel: Trägerüberreifende Teilhabeplanung ist weiterhin ausbaufähig) zu dem Schluss: „[….], dass es viel einfacher ist, Ziele gemeinsam zu verfolgen“. Und Björn Hagen (siehe Artikel: Mehr Einbindung in Teilhabeplanung- und Beratung) wünscht sich eine stärkere Vernetzung. Er bemerkt deutlich positive Auswirkungen auf Prozesse und Ergebnisse der Rehabilitation immer dort, wo die Vernetzung bereits funktioniert.

Inklusion ist immer noch mehr Zielmodell, aber (noch) nicht umfassende Realität. Die zweite Halbzeit bietet sich an, das was noch getan werden muss, kann und sollte, anzupacken.

"Wenn wir...
  • wissen, dass es zu gelingender Kooperation gehört, auch mal Kosten zu übernehmen, um anderen einen Vorteil zu verschaffen (Spieltheorie),
  • verstanden haben, dass Kooperationen fair zu gestalten eine Daueraufgabe sozial ge-rechter Gesellschaften ist (John Rawls),
  • erkennen, dass wir uns in vielen Belangen streng arbeitsteilig so organisiert haben, dass wir externe Eingriffe in unsere Prozesse minimieren und keine Kosten übernehmen (dürfen), die nicht in unmittelbarem Zusammenhang zum eigenen Nutzen stehen,
dann dürfen wir schlussfolgern, dass wir für die anstehenden Herausforderungen eine Generation brauchen, die Freude an der Zusammenarbeit hat und Mut, die Barrieren und Grenzen unserer Systeme und Institutionen zu überwinden.“
Prof. Dr. Edwin Toepler, Hochschule Bonn Bonn-Rhein-Sieg, zum 2.Tag der Teilhabe für Studierende im Studienbereich Soziale Sicherung