„Es soll ein echter Austausch über die Teilhabeziele zustande kommen“
Interview mit dem Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil
Sehr geehrter Herr Bundesminister, mit dem BTHG hat der Gesetzgeber an wichtigen Stellschrauben gedreht. Was sind für Sie zentrale Errungenschaften?
Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) haben wir drei wichtige Ziele erreicht. Erstens: Die Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger läuft jetzt deutlich straffer und transparenter – davon profitieren alle Leistungsberechtigten. Und die neuen Teilhabe- und Gesamtplanverfahren führen dazu, dass die Antragsteller schneller an ihre Teilhabeleistungen kommen. Zweitens: In der Eingliederungshilfe haben wir mit einem grundlegenden Reformprozess begonnen, der schrittweise aus dem bisherigen Fürsorgesystem in ein neues personenzentriertes System überleitet, um die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen zu stärken. Drittens: Schon mit der Verkündung des BTHG Ende 2016 sind wichtige Verbesserungen im Schwerbehindertenrecht in Kraft getreten. Diese Neuerungen erleichtern bereits heute die Arbeit der Schwerbehindertenvertretungen, z. B. bei der Freistellung im Betrieb und beim Anspruch auf Fortbildungen.
Das BTHG ist ein wichtiges Gesetz, aber wir arbeiten weiter daran, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Ein Großteil dieser Arbeit liegt derzeit bei den Bundesländern. Sie müssen auf der Landesebene die Vorgaben des BTHG im Bereich der Eingliederungshilfe umsetzen, weil diese Reformstufe zum 1. Januar 2020 bundesweit in Kraft treten wird.
Welche Rückmeldungen und Anfragen erreichen Sie als Minister zum BTHG?
Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen in ständigem Austausch mit den Verbänden der Menschen mit Behinderungen, mit den Behörden, ihren Spitzenverbänden und mit Ländern und Kommunen. Deswegen bekommen wir eine große Bandbreite von Informationen und Verbesserungsvorschlägen sowie viel Unterstützung und Kritik. Immer noch erreichen uns viele Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern, die von einer Behörde zur nächsten unterwegs sein müssen, um nach den für sie zuständigen Ansprechpartnern zu suchen. Im Behördenalltag kann das sicherlich im Einzelfall vorkommen. Aber ich sehe aufgrund der Vielzahl der Bürgerbriefe und der nicht immer nachvollziehbaren Verschiebebahnhöfe zwischen den Rehabilitationsträgern, dass es hier noch Handlungsbedarf gibt.
Denn für die Betroffenen ist das eine mühsame und zugleich entmutigende Erfahrung, da müssen wir einfach besser werden. Wenn z. B. eine Sachbearbeiterin einen höhenverstellbaren Hubsitz für ihren Arbeitsplatz in der Registratur benötigt oder ein Bauleiter mit einer Hörbeeinträchtigung wegen der besonderen Geräuschkulisse auf ein höherwertiges Hörgerät angewiesen ist, erwarte ich von den Behörden eine schnelle und unbürokratische Kostenübernahme ohne langwierige Zuständigkeitsprüfungen. Ich setze darauf, dass die neuen Verfahrensrechte, wie z. B. Teilhabeplankonferenzen, auch umgesetzt werden, indem sie von den zuständigen Behörden proaktiv angeboten und von den betroffenen Menschen eingefordert werden – denn das ist ihr gutes Recht.
Ein zentrales Anliegen des Sozialgesetzbuch IX ist es, die Koordination der Leistungen und das Zusammenwirken der Reha-Träger zu gewährleisten. Wie zufrieden sind Sie mit der bisherigen Umsetzung des Gesetzes?
Bei den Sozialversicherungsträgern, bei den Ländern und bei den Kommunen laufen derzeit viele Umsetzungsaktivitäten gleichzeitig. Alle ziehen an einem Strang und passen ihre Verwaltungsstrukturen an die neuen Aufgaben an. Für eine tragfähige Bestandsaufnahme ist es derzeit aber noch zu früh. Die Rehabilitationsträger sind gesetzlich dazu verpflichtet, für den neuen Teilhabeverfahrensbericht jährlich anonymisierte Verfahrensdaten zu erheben und an die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) weiterzugeben. Ich bin auf das Gesamtbild gespannt, wenn die BAR diese Daten erstmals ausgewertet hat.
Es wird immer viel über Schwächen des gegliederten Systems gesprochen. Wo sehen Sie die Potenziale in diesem System?
Für einen einzigen Reha-Antrag müssen oft zwei, drei oder sogar mehr Behörden eng miteinander zusammenarbeiten. Das bleibt trotz BTHG und Teilhabeplanverfahren auch weiter so. Aber es bieten sich auch Chancen: Die fortschreitende Digitalisierung kann von den Rehabilitationsträgern genutzt werden, um in den Verwaltungsabläufen schon jetzt nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Wenn wir in Zukunft die Reha-Anträge online bearbeiten wollen, dann müssen heute die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, indem z. B. Formulare möglichst vergleichbar ausgestaltet werden. Gerade wegen der hohen Vernetzung der Behörden im Reha-Prozess ist hier der Digitalisierungsdruck besonders hoch.
Das BTHG stärkt die Partizipation. Was ist Ihnen an der Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen an ihrem Reha-Prozess wichtig?
Das ausdrückliche Ziel des BTHG ist die Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Das muss sich derart im Verfahren wiederfinden, dass diese Selbstbestimmung über Mitwirkungsrechte auch konkret gelebt werden kann.
Entscheidend dafür ist die „Augenhöhe“: Menschen mit Behinderungen und die zuständigen öffentlichen Stellen sollen sich so begegnen, dass ein echter Austausch über die Teilhabeziele zustande kommt - und wie man sie gemeinsam verwirklichen kann. Um auf „Augenhöhe“ spürbar voranzukommen, gibt es mittlerweile bundesweit über 500 Angebote der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) und neue Verfahrensrechte für die Antragsteller auf Teilhabeleistungen. Zu den Verfahrensrechten gehört vor allem der Anspruch auf die neuen Teilhabeplankonferenzen, bei denen alle Beteiligten miteinander den Teilhabebedarf beraten, ohne wegen fehlender Zuständigkeit auf andere verweisen zu können. Solche Gesprächssituationen werden erstmals gesetzlich vorgegeben.
Bei der Verwirklichung von Teilhabe und Selbstbestimmung geht es aber um mehr: Ich möchte mich auf gesellschaftliche Fragen der Barrierefreiheit, der Arbeit für Menschen mit Behinderungen und auf eine inklusive Demokratie konzentrieren. Für mich und mein Ministerium steht hierbei Teilhabe im Zentrum. Wir wollen auch künftig bei allen gesetzlichen Initiativen Menschen mit Behinderungen von Anfang an nach dem Prinzip „Nichts über uns ohne uns!“ einbeziehen. Beim BTHG haben wir das bereits erfolgreich umgesetzt, so wollen wir es auch weiter halten.
Die BAR feiert 2019 ihr 50-jähriges Bestehen. Was sind Ihre Erwartungen an die BAR?
Die BAR ist die trägerübergreifende Plattform derjenigen Rehabilitationsträger, die in der BAR gesetzlich organisiert sind und derjenigen Akteure, die bei den Beratungen in der BAR mitwirken. Aus dieser Zusammenarbeit sind viele nachhaltige Absprachen, Informationsangebote und Produkte hervorgegangen, die heute wichtige Pfeiler der Verwaltungspraxis bilden. Ich denke da an das neue Online-Angebot der BAR für das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM), den „BEM-Kompass“, der sich gezielt an Praktiker richtet. Die Mitglieder der BAR sind dicht am Puls der Zeit und bringen gute Vorschläge in die Vereinsarbeit ein. Derzeit verfügt in Deutschland keine andere Stelle über einen so guten Überblick über das Rehageschehen. Meine Fachleute und ich schätzen die hohe fachliche Kompetenz und die Neutralität bei der Ausgestaltung der Kooperation in der BAR. Die Entscheidung des Gesetzgebers, der BAR mit dem BTHG die Aufgabe zuzuweisen, jedes Jahr einen Teilhabeverfahrensbericht zu erstellen, zeigt, wie anerkannt die BAR ist. Meine Erwartung an die BAR ist deshalb, dass sie weiterhin versucht, die vielen berechtigten Interessen und Meinungen zu bündeln, ohne sich von einzelnen Akteuren, auch nicht von den Erwartungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, vereinnahmen zu lassen.
2019 erstellt die BAR erstmalig einen Teilhabeverfahrensbericht zum Reha-Geschehen in Deutschland. Welchen Erkenntnisgewinn verbinden Sie mit dem neuen Instrument?
Ein Schwerpunkt des BTHG sind schnelle, transparente und partizipative Verfahren bei der Beantragung von Teilhabeleistungen. Wir wollen ab jetzt aber auch wissen, inwieweit diese neuen Regelungen tatsächlich umgesetzt werden. Das kann man nur durch die genaue Erfassung und Analyse erreichen. Konkret geht es insbesondere um Daten zur Anzahl gestellter Anträge, zur Verfahrensdauer sowie zu den Bewilligungen, Ablehnungen und Rechtsbehelfen von allen Rehabilitationsträgern. Die BAR erstellt daraus eine trägerübergreifende Statistik, die dann auch veröffentlicht wird. So können wir alle sehen, wie unser Rehabilitationssystem arbeitet und wo es möglicherweise noch hakt und wo wir noch besser werden können. Ich wünsche mir, dass auf Basis der Erkenntnisse alle Beteiligten weiterhin die Verbesserung des Systems vorantreiben.