Die Kinder in den Blick nehmen

Aufwachsen mit suchtkranken Eltern

Wer mit einem suchkranken Elternteil aufwächst, hat ein erhöhtes Risiko, selber eine Sucht oder andere psychische Krankheit zu entwickeln. Um das zu verhindern müssen die Kinder frühzeitig in den Blick genommen werden, etwa während eines Reha-Aufenthaltes der Eltern.

Für Kinder aus suchtbelasteten Familien geht es ständig um Leben und Tod. Das ist die nicht nur gefühlte Realität im Alltag von rund drei Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Jedes fünfte bis sechste Kind ist betroffen. Eine Kindheit im Schatten elterlicher Sucht ist gekennzeichnet
von einer Atmosphäre ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an Zuwendung und Geborgenheit. Dabei lieben suchtkranke Eltern ihre Kinder nicht weniger als alle anderen Eltern. Aber die Sucht ist stark, macht aus liebenden Vätern und Müttern Menschen, von denen entweder Gefahr durch verbale oder körperliche Gewalt ausgeht, oder hilfsbedürftige Menschen, deren körperlicher Verfall zumindest bei stofflichen Süchten den Kindern nicht verborgen bleibt. Sie ziehen die Aufmerksamkeit der ganzen Familie auf sich. Und die Kinder lernen: Meine Bedürfnisse und Gefühle sind nicht wichtig, entscheidend ist der suchtkranke Elternteil. Wenn es ihm gut geht, kann ich entspannen, wenn nicht, droht Gefahr. Ein Leben im ständigen Alarmzustand.

Spaß, Alltagsbewältigung und Lebenshilfe

Dass das nicht ohne Folgen für die eigene Gesundheit bleiben kann, liegt auf der Hand. Wer in einer suchtbelasteten Familie aufwächst, hat ein mehrfach erhöhtes Risiko, eine psychische Krankheit zu entwickeln. Etwa ein Drittel der Betroffenen wird selber suchtkrank, ein weiteres Drittel entwickelt andere psychische oder soziale Störungen, zum Teil überschneiden sich beide Gruppen. Nur eines von drei Kindern kommt mehr oder weniger unbeschadet davon (siehe untenstehende Grafik).

Spielerisches Training

Suchtkranke Eltern können im Gesundheitssystem auf eine regelfinanzierte Versorgung zählen, doch die Kinder als hochvulnerable Gruppe fallen meist durch das Raster. „Es gibt keine Versorfehlt gung, weil der Begriff eine Regelversorgung impliziert, und die gibt es nicht“, sagt Silke Wiegand-Grefe, Professorin für Klinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg–Eppendorf, in einem Interview mit NACOA Deutschland, der Interessenvertretung für Kinder aus suchtbelasteten Familien. Zwar gebe es einzelne Projekte, Arbeitsgruppen und Initiativen, die die Kinder bei der Behandlung der Eltern mit in den Blick nähmen, aber „noch sind wir weit davon entfernt, dass man von Versorgung sprechen kann.“ Denn: Unser Medizinsystem nimmt immer nur den einzelnen Menschen in den Blick. „Es ist individuumszentriert, nicht familienzentriert“, sagt Wiegand-Grefe.

Um dies zu ändern, haben Wiegand-Grefe und andere in 19 Kliniken CHIMPs-Net gestartet, ein Interventionsprogramm für Kinder psychisch kranker Eltern. In diesem Rahmen wurden die Kinder auf psychische Auffälligkeiten untersucht. Wer eine solche aufwies, wurde in einer familienorientierten Therapie bei einem Psychotherapeuten behandelt. Die anderen Kinder erhielten eine Präventionsmaßnahme unter Beteiligung eines Sozialarbeiters. Das Projekt wurde gefördert vom Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss der gesetzlichen Krankenkassen. Bei erfolgreicher Evaluation könnte die neue Versorgungsform in die Regelversorgung der GKV aufgenommen werden.

Aber schon jetzt gibt es Reha- Kliniken für suchtkranke Eltern, die auch deren Kinder mit aufnehmen und zum Teil auch (therapeutisch) betreuen. Etwa die Rehaklinik Lindenhof in Schallstadt- Wolfenweiler die auf die Behandlung von suchtkranken Frauen spezialisiert ist und unter anderem mit MAKS in Freiburg kooperiert, einer Einrichtung zur Betreuung von Kindern aus suchtbelasteten Familien. Auch die Rehaklinik Birkenbuck im Schwarzwald hat in Zusammenarbeit mit der Rehaklinik Kandertal ein Fachkonzept zur familienorientierten Suchtrehabilitation entwickelt, bei der der suchtkranke Elternteil und die Angehörigen je nach Indikation während der Rehamaßnahme entweder ganz oder einige Wochen mit behandelt werden. Am südlichen Stadtrand von Berlin bietet der Tannenhof Kindern von Eltern, die dort eine Suchttherapie machen, die Möglichkeit der Betreuung und einer therapeutischen Unterstützung (etwa therapeutisches Reiten) an.

Der Autor ist selbst in einer suchtbelasteten Familie aufgewachsen und engagiert sich in der Öffentlichkeitsarbeit von NACOA Deutschland.

Einen ersten Überblick über Reha-Kliniken für Suchtkranke, die auch Angebote für deren Kinder haben, liefert NACOA Deutschland unter https://nacoa.de > Infos > Stationäre Hilfeangebote