Für Menschen mit Suchterkrankungen lauern Gefahren überall
6 Fragen an Dr. Maik Behrendt
1. Welche Probleme haben Menschen mit Suchterkrankungen in unserem Hilfesystem?
Das Kernproblem ist eigentlich nicht die Sucht, sondern das Prinzip der Sucht als ein Lösungsverhalten für herausfordernde, schwierige Lebensereignisse. Die Sucht selber kann nur aufgelöst werden, wenn sich die Psyche stabilisiert und schwierige Lebensereignisse bearbeitet werden. Die Problemlagen von Menschen mit Suchterkrankungen sind oft schwer zu erkennen. Denn die Sucht ist per se eine Kompensationsstrategie. Und nur die Spitze des Eisbergs. Leider ist auch im Suchtkranken-Helfersystem der Fachkräftemangel eingezogen. Es gibt lange Wartezeiten auf Beratungsund
Therapieplätze. Dadurch entstehen Kontaktabbrüche und Rückfälle sind vorprogrammiert. Eine weitere Hürde ist die Zusammenarbeit der Hilfen untereinander. Oft ist unklar, wer in welchen Lebenslagen hilft. Menschen mit Suchterkrankungen suchen auch oft erst Hilfe, wenn die Existenz gefährdet ist. Das heißt, die Motivation zur Abstinenz ist eher auf äußere Umstände zurückzuführen. Sie muss aber intrinsisch sein. Es geht darum, den Schmerz zu erkennen und dass dieser mit dem Konsum zu tun hat.
2. Also Entwöhnung, Reha und dann ist alles gut?
Nein, mit der Abstinenz ist die Suchterkrankung nicht weg. Sie ist, wie ich es nenne, leise. Aber sie ist aktiv, denn ich bin umgeben von Triggern, die tatsächlich meinen Suchtdruck fördern. Das wird mir klar, wenn ich zum Beispiel Filme gucke, in denen es auf einmal zu außergewöhnlichem Alkoholkonsum kommt.
Dann bin ich plötzlich extremst angespannt und kann diesen Film kaum weiter gucken. Das kann auch eine Alkoholfahne meines Lebenspartners sein, der mit Freunden ein Bierchen getrunken hat und nach Hause kommt. Dann kann es auch zu Partnerschaftskonflikten kommen. Diese Beeinträchtigungen und Barrieren können ein Leben lang präsent sein. Trotzdem: Meine Abstinenz-Erklärung ist konstant und unwiderruflich, aber die Trigger um mich herum sind da und können gefährlich werden, wenn ich weniger resilient oder weniger aufmerksam bin. Gefahren lauern überall.
3. Wie lässt sich eine bessere Versorgung gewährleisten?
Zunächst einmal wissen viele Menschen mit Suchterkrankung nicht, dass sie einen Grad der Behinderung beantragen können. Darüber hinaus gibt es die Begleitung durch Suchtberatungsstellen oder die Unterstützung durch Sozialdienste in Krankenhäusern, in Kliniken für Psychosomatik und in Psychiatrien. Und es gibt die ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungsstellen, die rund um das Thema medizinische Rehabilitation und Teilhabe beraten. Diese Beratungsangebote sind kostenlos, arbeiten personenzentriert und haben das Ziel, die Selbstbestimmung der ratsuchenden Menschen zu fördern. Für bessere Teilhabe kann ein Peer-Ansatz sinnvoll sein. So könnten Menschen, die schon stabil mit einer Suchterkrankung leben, andere Menschen bei ihrem Stabilisierungs- und Genesungsweg unterstützen. Natürlich immer auch zusammen mit Therapieangeboten und Suchtkranken- Helfern. Diese Lotsenfunktion könnte als kompensatorische oder qualifizierte Assistenz zur sozialen Teilhabe im Sinne von § 78 SGB XI (Assistenzleistungen), § 106 SGB IX (Beratung und Befähigung) oder § 29 SGB IX (Budgetassistenz) gesehen werden. Eine bessere Versorgung ist auch eine Frage der Haltung. Es geht um das Thema Akzeptanz, darum, den Menschen anzunehmen und eine beständige Beziehungs Aufrechterhaltung anzubieten, denn Menschen mit Suchterkrankungen haben eine starke Bindung zu ihrem Suchtpartner. Sich auf Beziehungs Akteurinnen im Hilfesystem einzulassen, ist mit sehr viel Kraft und Energie verbunden. Dabei ist es eben wichtig, dass die Bezugsperson eine verlässliche, kompetente Person im Hilfesystem ist, die dazu in der Lage ist, die intrinsische Motivation hervorzulocken. Nur so kann sich der Mensch mit Suchterkrankung öffnen in eine andere Lebensführung ohne Suchtstoff. Die Abstinenz ist das Mittel.
4. Welche Rolle spielen Empowerment und Selbsthilfe?
Die Suchtkrankheit hört nie auf. Es ist wichtig, dass eine Unterstützung greifbar ist. Die Krankenkassen bieten beispielsweise Selbsthilfe als Nachsorgeinstrument an. Sie ist der Ort, um den bestehenden Schmerz sozusagen zu killen. Was ich als Mensch mit Suchterkrankung brauche, sind Vorbilder, also Menschen, die über viele Jahre abstinent geblieben sind. Aber die Selbsthilfe zeigt auch, dass Menschen Rückfälle haben. Diese Erfahrung ist wichtig, weil mir nur damit klar werden kann, dass diese Erkrankung ein Leben lang besteht. Rückfälle gehören dazu und können in der Selbsthilfe aufgearbeitet werden, unterstützt von Fachkräften der Suchthilfe. Die Rückfallquote ist hoch. Hier stellt sich die Sinnfrage. Wenn nicht klar ist, warum ich dieses Beziehungsmittel Sucht aufgeben sollte, wenn mich nicht etwas Besseres erwartet, dann werde ich scheitern. Wenn der Schmerz weiter besteht und nicht bearbeitet wird und der Person nicht die Unterstützung geboten wird, diesen Schmerz letztlich zu bearbeiten, dann wird es weiter Rückfälle geben.
5. Hat das auch mit (mangelnder) Lebensperspektive zu tun?
Ich glaube, was uns Menschen antreibt, das ist der Sinn. Wenn für mich nicht klar ist, warum ich etwas ändern sollte, tue ich es auch nicht. Nur weil mir jemand sagt, Sie leben gesünder mit der Abstinenz, reicht das nicht, um abstinent zu werden. Aber wenn mir klar wird, dass ich das, was mich eigentlich zur Sucht geführt hat, bearbeiten kann und dass ich diesen Schmerz ein Stück weit loslassen kann und mich wieder auch dank sozialer Teilhabe im Leben verankern kann, dann kann Abstinenz gelingen. Es geht darum, Lebensperspektiven zu eröffnen, um dann partizipativ und selbstbestimmt mein Leben führen zu können. Wozu brauche ich dann noch die Sucht?
6. Was ist für Sie Selbstbefähigung?
Ich glaube Selbstbefähigung bedeutet, meine eigene Risikobereitschaft gut zu reflektieren, also Fähigkeiten und Fertigkeiten zu haben, dem Suchtdruck zu widerstehen und immer wieder für mich zu fragen: Was wäre der Verlust? Was habe ich mit einem Rückfall zu verlieren? Das geht aber nur, weil ich mir mit Hilfe vieler Menschen wieder etwas erarbeitet habe, was für mich eine Lebensgrundlage ist. Das muss aber ständig geübt und reflektiert werden.
Selbstbefähigung heißt, in Selbstfürsorge und in die Selbstverantwortung zu gehen und zur Sucht klar nein zu sagen. Durch die Sucht habe ich das Neinsagen gelernt. Inzwischen ist das mein Schlüsselsatz, nein zu meiner Sucht zu sagen und auch nein zu denen zu sagen, die mir nicht guttun.