Reha-Info 06/2012 - Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
seit langem gibt es eine lebhafte Diskussion um die Begriffe „Rationierung“ und „Priorisierung“ im Gesundheitswesen. Hintergrund der Diskussion sind ökonomische Zwänge, bedingt durch begrenzt zur Verfügung stehende Ressourcen bei gleichzeitig steigendem Bedarf nach medizinischen Leistungen.
Ziel der medizinischen Rehabilitation ist die Förderung von Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen. Für die Gewährung der zur Verfügung stehenden Leistungen spielt die Einschätzung, ob nach rehabilitationswissenschaftlichen Erkenntnissen das jeweils vorgegebene Teilhabeziel erreicht werden kann, eine zentrale Rolle. Inwieweit dabei aber auch Fragen der Ökonomie bedeutsam sind, und ob es ethisch angemessen ist, gegenüber der Knappheit der Ressourcen in der Medizin mit „Priorisierung“ und „Rationierung“ zu reagieren – mit diesen und weiteren Fragestellungen beschäftigte sich der Sachverständigenrat der Ärzteschaft der BAR im Rahmen des Workshops „Ethik und Rehabilitation“ in Kassel.
Unterläuft berechnendes Denken die moralischen Grundlagen der modernen Medizin? Wie gefährdet ist der Grundgedanke der Solidarität unseres Gesundheitswesens, wenn Gesundheitsleistungen wie Konsumgüter angesehen werden?
Vor dem Hintergrund, dass die Medizin von ihrem Grundverständnis her der Sorge um den Kranken, den behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen verpflichtet ist, die Ökonomie hingegen die Maximierung des Nutzens verfolgt, erschließt sich das Konfliktfeld zwischen Medizin und Ökonomie. Handelnde in diesem Konfliktfeld sind aber nicht allein die Ärzte – um das Solidarsystem Medizin zu erhalten braucht es eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Mit Blick auf die Zielgruppe der behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen wird es – auch im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention - darum gehen, eine positive Wahrnehmung und ein größeres soziales Bewusstsein gegenüber dieser Zielgruppe zu fördern. Es ist entscheidend, die Aufgeschlossenheit gegenüber ihren Rechten zu erhöhen und die Anerkennung ihrer Fähigkeiten und ihres Beitrags im Arbeitsleben zu unterstützen. Als Ergebnis des Workshops plant der Sachverständigenrat der Ärzteschaft der BAR ein Positionspapier im Sinne dieser „ethischen Sensibilisierung“.
Ethische Aspekte beinhaltet auch die Zielstellung, Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Im Sinne von „Barrierefreiheit“ gehört dazu der gleichberechtigte Zugang zur physischen Umwelt ohne Hindernisse. Die von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte Beseitigung von Barrieren in jeder Form ist sowohl rechtlich bindend als auch ethisch maßgebend. Um zielgerichtet zu handeln bedarf es auch hier eines Bewusstseinswandels und einer Werteorientierung, die sich an den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen messen lassen muss. Ethik ist verantwortbare Praxis. Bereits vor 30 Jahren hat sich die BAR-Arbeitsgruppe „Barrierefreie Umweltgestaltung“ diesem Ziel verschrieben und Ergebnisse ihrer Arbeit bei einem Fachgespräch im Rahmen der RehaCare 2012 in Düsseldorf vorgestellt. Dabei wurde deutlich wie mühsam die einzelnen Schritte waren. Und ebenso, dass das Verständnis von „Umwelt“ weit über die physische Umwelt hinaus geht und in starkem Maße gesamtgesellschaftliche Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderung betrifft. Deutlich wurde aber auch, dass es für Veränderungsprozesse engagierte Menschen braucht, die einerseits ihr Expertenwissen zur Verfügung stellen und sich mit Geduld und Zähigkeit einer Aufgabe verschreiben. Zur Fachtagung wird die BAR eine Dokumentation erstellen und allen Interessierten zur Verfügung stellen.
Liebe Leserin, lieber Leser,
wenn echte Teilhabe im Sinne von Inklusion gelingen soll, braucht es dafür auch „ethische Leitplanken“, innerhalb derer Entwicklungen – die unausweichlichen wie die gestaltbaren – verankert werden können. Hierin besteht für alle Akteure im System der Rehabilitation weiterhin ein hohes Maß an Verantwortung. Ich wünsche Ihnen und uns allen dafür Aufgeschlossenheit, Urteilskraft und im wahrsten Sinne der Wortes „eine gute Hand“ für die anstehenden Aufgaben - und für 2013 von Herzen alles Gute
Seien Sie herzlich gegrüßt
Ihre Helga Seel
Geschäftsführerin der BAR