Familie und soziales Netz
Freud und Leid haben ihren Ursprung fast immer in der Beziehung zu anderen Menschen. Menschen berühren uns, wenn sie uns nahestehen. Zu unserem engeren Netz zählen Partner und Freunde. Zum weiteren Netz gehören Nachbarn, Kollegen oder Bekannte aus Vereinen, Parteien oder anderen Verbindungen. Zusammen bilden sie unser soziales Netz. Was wären wir ohne Familie, Freunde und Bekannte, die uns den Rücken stärken, bei Problemen helfen und uns anerkennen und wertschätzen? Sie geben Sicherheit, sie sind Stütze im Ernstfall, etwa bei Pflege und Krankheit. Und unser Selbstbewusstsein entwickelt sich aus der Gemengelage dieser Beziehungen.
Die Familie bildet einen Eckpfeiler unser Gesellschaft. Nichts bestimmt so sehr über unsere Zukunft, wie unsere Herkunft und damit unsere Familie. Sie prägt uns und unsere ersten Schritte in die Welt. Wenn wir nicht mehr können, wie wir wollen, ist es auch oft die Familie, die sich kümmert. Sie nimmt schon nach dem Grundgesetz eine besondere Stellung ein. Der Staat fördert Familien jährlich mit 128,9 Mrd. Euro durch insgesamt 150 verschiedene familienbezogene Leistungen, so stellte es jüngst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages fest. Öffentliche und private Debatten zum Thema Familie sind oft geprägt von Grundsätzlichem – Werte, Kultur sowie individuellen Lebensformen und -modellen.
Wie wandelte sich das Leben und Zusammenleben?
Noch vor der Industrialisierung – also vor kaum mehr als 200 Jahren oder vor etwa fünf Generationen – lebten wir in großen Kernfamilien zusammen. Damals war unsere Familie alles – KiTa, Versicherung, Radio, Bank, Partnervermittlung, Polizei und Richter. Mit den Veränderungen der Kernfamilien wurden immer mehr Aufgaben von Staat und Markt übernommen. Die Sozialversicherungen wurden eingeführt und staatliche Institutionen organisierten weitgehend das Zusammenleben und die Sicherheit der Bevölkerung. Moderne Gesellschaften würden ohne diese Professionalisierung wahrscheinlich keinen Tag überleben. Prägte in den Nachkriegsjahren noch ein bürgerliches Familienbild mit Vater, Mutter und 2-3 Kindern das Gesicht der Gesellschaft, so hat sich dieses Bild durch die wachsende Individualisierung bis heute nachhaltig verändert.
Wie leben die Menschen heute in Deutschland?
Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes gab es im Jahr 2013 insgesamt 8,1 Millionen Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind. Allerdings verändert sich das Zusammenleben auch dieser Familien in Deutschland weiter. Und auch die Lebensformen werden zunehmend heterogen. Der Anteil der alleinerziehenden Mütter und Väter beträgt inzwischen etwa 20 %. Auf nicht-eheliche oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften und Ehen entfallen die übrigen 10 %, so das statistische Bundesamt.
Das klassische Familienmodell befindet sich also im Rückzug. Aber wie leben die Menschen heutzutage in Deutschland? 1996 waren nur 35,4 % der Haushalte Einpersonenhaushalte. Inzwischen sind es 41,1 %. Die Zahl der Haushalte mit 5 oder mehr Personen ist dagegen von 4,6 % auf 3,4 % zurückgegangen. Zusammenfassend ist aus den Zahlen des statistischen Bundesamtes ein Trend zu kleineren Haushalten deutlich zu erkennen (vgl. Abb. 1).
Wie sieht die Situation von Menschen mit Behinderungen aus?
Was bedeuten die Abnahme des klassischen Familienbildes verbunden mit der Zunahme alternativer Lebens- und Wohnmodelle für die Menschen mit Behinderungen, die im Alltag oftmals auf Hilfe Unterstützung und Pflege angewiesen sind? Laut Teilhabebericht der Bundesregierung leben Menschen mit Beeinträchtigungen im Alter zwischen 30 und 64 Jahren besonders häufig alleine. Sie sind in Bezug auf die Gesamtbevölkerung seltener verheiratet und haben auch weniger Kinder als Menschen ohne Beeinträchtigungen (minus 35 %). Kinder mit Behinderungen leben häufiger bei einem alleinerziehenden Elternteil als Kinder ohne Beeinträchtigungen.
Die Familienmodelle von Menschen mit Behinderungen weichen von denen der übrigen Bevölkerung auffällig ab. Die meisten Menschen mit Beeinträchtigungen leben in Zwei-Personen-Haushalten, überwiegend als Paare ohne Kinder (44 %). 31 % der Menschen mit Beeinträchtigungen sind alleinlebend, und nur 7 % leben in Paarbeziehungen mit Kindern. Lediglich in der Gruppe der Alleinerziehenden bestehen nur kleinere Unterschiede (Abb. 2). Auffallend ist besonders, dass Menschen mit Behinderungen im Durchschnitt über ein deutlich kleineres soziales Netz verfügen. Ohne das Netz, das aus Familie, Freunden, Bekannten und Nachbarn gespannt wird, stehen ihnen aber wichtige Ressourcen der gegenseitigen Unterstützung nicht zur Verfügung. Soziale Netze geben Sicherheit und Geborgenheit, sie tragen bei Krankheit und Pflege. Darüber hinaus erfüllen sie grundlegende psychosoziale Bedürfnisse wie Anerkennung, Respekt und Wertschätzung.
Welche Folgen haben kleine soziale Netze auf die Teilhabe?
Nach Berechnungen des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) sind Menschen mit Beeinträchtigungen insbesondere mit ihrer familiären Situation und den Folgen des Alleinlebens unzufriedener als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Neben den Einschränkungen in der Zugänglichkeit und Barrierefreiheit, werden sie seltener unterstützt und erhalten weniger Besuch von Freunden und Bekannten als Menschen aus vergleichbaren Altersgruppen ohne Beeinträchtigungen. Das gilt unabhängig vom Geschlecht für alle Altersklassen. Der Teilhabebericht geht darüber hinaus davon aus, dass die reduzierte Zahl aktiver sozialer Beziehungen die individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschwert. Gleichwohl weist der Bericht darauf hin, dass immer eine Gesamtbetrachtung der individuellen Situation und des Lebenshintergrundes notwendig ist.
Wie können Gesellschaft und Politik reagieren?
Um Unterstützung in der Lebenslage „Familie und soziales Netz“ zu bekommen, müssen verschiedene Aspekte beleuchtet werden. Das beginnt mit den Aspekten der Zugänglichkeit und Barrierefreiheit von Gebäuden, Informationen und kulturellen Einrichtungen. Der wesentliche Faktor ist aber der Mensch selbst. Barrieren entstehen im Kopf und sind im Kopf abzubauen. Es ist wichtig, dass behinderte Menschen und ihr familiäres und soziales Netzwerk miteinander interagieren und aufeinander abgestimmt sind: Im Kontext des sozialen Netzes stellen sich einige Fragen: Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen einem kleinen sozialen Netzwerk und einer eingeschränkten Teilhabe? Bedeutet großes Netz gleich bessere Teilhabe? Also ist ein Mensch mit einem großen sozialen Netz generell im Vorteil? Wie beeinflusst das Umfeld den Menschen im Positiven und im Negativen?
Klar ist sicherlich, dass ein kleiner „Pool“ an Beziehungen verbindlicher und herzlicher ausgestaltet sein kann und eine stärkere Bedeutung haben kann, als viele lose Kontakte und Bekannte. Von besonderer Bedeutung sind für alle Menschen Beziehungen und Kontakte, die von Vorurteilsfreiheit, Akzeptanz und Zuneigung geprägt sind. Also ein Umgang mit Menschen, die andere durch ihre Worte, Gesten und Blicke berühren und so eine Wirkung und menschliche Bindung entfalten. Der Soziologe Hartmut Rosa verwendet dazu in seinen Werken den Begriff der „Resonanzbeziehung“.
Unabhängig von einer Behinderung ist das Ausmaß der Beziehung entscheidend. Können die zwischenmenschlichen Bedürfnisse durch meine Freunde, meine Familie und mein übrigens Netz befriedigt werden? Dafür sind Fragen der Verteilung und Erreichbarkeit der Personen innerhalb dieses Netzwerks wesentlich. Es stellt sich immer wieder die Frage: Wer ist für mich da? Wer kann Trost spenden? Über welche Witze kann ich lachen? Wer nimmt mich in den Arm? Der entscheidende Faktor bei der Entwicklung der Teilhabe im Bereich Familie und soziales Netz ist also die wahrgenommene Ausprägung der sozialen und zwischenmenschlichen Unterstützung durch Familie, Freunde und Nachbarn. Und diese hängt maßgeblich von der Bereitschaft und den Möglichkeiten des sozialen Umfelds zur Unterstützung des beeinträchtigten und hilfsbedürftigen Menschen ab.
Wie wird sich unser Leben und Zusammenleben entwickeln?
Die Digitalisierung, pluralistische Lebensformen und andere gesellschaftliche Entwicklungen werden das Bild von Familie und sozialem Netz auch zukünftig wandeln. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch „ Die Gesellschaft der Singularitäten“ einen gesellschaftlichen Trend, in dessen Mitte die Aspekte Einzigartigkeit, Erlebniswelt und Unverwechselbarkeit stehen. Wie wirken sich diese Veränderungen auf unsere Gesellschaft und ihr Zusammenleben aus? Und was bedeuten diese Entwicklungen für das Leben als Mensch mit Behinderung? Hier werden sich in Zukunft interessante und wichtige Fragen zu einer Ethik der Lebensführung ergeben, die sich einem Verständnis von individueller Selbstbestimmung und dem Respekt vor menschlicher Autonomie stellen müssen. Ganz sicher darf das Leben von Menschen mit Behinderung nicht an der Peripherie unserer modernen Lebensformen stattfinden.