Fünf Fragen an den Verwaltungswissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Pippke
Zum 01.01.2018 ist die zweite Stufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft getreten, die zu umfassenden Änderungen im Behinderten- und Teilhaberecht in Deutschland führte. Aus dieser Reformstufe ergeben sich zahlreiche Neuerungen, die insbesondere die Kommunikation, Kooperation und Vernetzung der Reha-Träger untereinander betreffen. Darüber hinaus wird sich aber auch die Kommunikation mit den Antragstellern und Ratsuchenden weiterentwickeln.
Prof. Dr. Pippke wird sich diesen und weiteren Aspekten aus Sicht eines Verwaltungswissenschaftlers annähern.
Herr Prof Dr. Pippke, was erwarten die Menschen, unabhängig davon, ob sie nun in der Stadt oder auf dem Land leben heutzutage von einer modernen und bürgernahen Verwaltung?
Nach Auswertung zahlreicher empirischer Untersuchungen werden insgesamt 16 Anforderungen von den Bürgern an die öffentlichen Verwaltungen gerichtet. Exemplarisch möchte ich drei Anforderungen besonders hervorheben. Zunächst eine gute räumliche und zeitliche Erreichbarkeit der Verwaltung. Dies bedeutet im Einzelnen: eine zentrale Lage in der Stadt oder Gemeinde, gute Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln, ausreichende Anzahl von Parkplätzen, Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen, bürgernahe Öffnungszeiten; Anwesenheit der Beschäftigten während der Öffnungszeiten; prompte telefonische Erreichbarkeit mittels Durchwahlnummern, Umschaltungen bei Abwesenheit, Sorgentelefon, „heißer Draht“ sowie die stetige Erreichbarkeit über das Internet. Ein zweiter Aspekt sind kurze Wartezeiten und geringe Suchzeiten. Dies wird erreicht durch leicht auffindbare, gut lesbare und leicht verständliche Informationen sowie die Vermeidung unnötiger Wege und Rückfragen für den Bürger. Beim Internetzugang werden prompte Zugriffe und ein schneller Seitenaufbau erwartet. Das heißt auch Antragsformulare sollten möglichst so gestaltet werden, dass keine Rückfragen entstehen. Als letzten Aspekt möchte ich noch erwähnen, dass die Bürger ein zügiges Bearbeitungsverfahren durch gut geschultes und in der Quantität ausreichendes Personal innerhalb einer effizienten Ablauforganisation erwartet.
Für bundesweit aufgestellte Sozialleistungsträger wird die Frage drängender, wie sie Bürger in ihrem Sozialraum und in ihrer Lebenslage auch in Zukunft erreichen und somit ihrem politischen Auftrag gerecht werden können. Denn viele Menschen erleben so etwas wie einen „Rückzug aus der Fläche“. Sind diese Eindrücke wissenschaftlich belegt? Und wenn ja: was kann getan werden, um allen Menschen möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse zu ermöglichen?
Gleichwertige Lebensverhältnisse in diesem Sinne bedeuten zunächst einmal, gleiche Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten für alle Bürger, die in Kontakt mit einer Verwaltung treten. Ein Schlüssel zu diesen Anforderungen liegt im sog. E-Government. Dieser Ansatz gestattet es allen Bürgern, sich über das Internet über die Angebote und Leistungen einer Verwaltung zu informieren und dort direkt mit ihr in Kontakt zu treten und auch dort die Entscheidungen über ihr Anliegen zu erhalten. Insbesondere für ältere Menschen, die keinen Zugang zum Internet haben, schlägt die wissenschaftliche Praxis die Einrichtung sog. Multifunktionsläden vor, in denen die Bürger ihre Geschäfte (Rente, Reha, Pflege) erledigen können und in denen auch Zugriffsmöglichkeiten auf das Internet mit entsprechenden Verwaltungsangeboten bestehen. Ein solcher qualifizierter Kontakt ist durch eine Kombination von räumlich dezentralen Front-Office-Einrichtungen, in denen Anträge entgegengenommen werden können, und sogenannten Back-Office-Einrichtungen, in denen die Fachleute die gewünschten Auskünfte geben, Anträge bearbeiten und Entscheidungen treffen, möglich. Auf diese Weise sollen Bürger im ländlichen Raum problemlos Kontakt zur Verwaltung herstellen. Für Menschen mit Behinderungen, die ihre Wohnung nicht verlassen können und die keinen Zugriff auf Onlinedienstleistungen haben, wäre der Einsatz von mobilen Verwaltungsmitarbeitern denkbar, die amtliche Angelegenheiten gemeinsam mit den Menschen unter Einsatz von mobilen Endgeräten vor Ort regeln – unter dem Motto: Nicht die Bürger sollen laufen, sondern die Verwaltungen.
Der Gesetzgeber verpflichtet die Sozialleistungsträger mit dem Bundesteilhabegesetz zu einer verbindlicheren und engeren Zusammenarbeit im Rahmen des SGB IX. Worauf ist nach Ihrer Meinung zu achten, damit es für Menschen mit Behinderung tatsächlich „Leistungen wie aus einer Hand“ gibt?
Ein Ansatz zur Lösung dieses Problems ist die Gestaltung des sogenannten One-Stop-Governments. Hierbei hat der Bürger mit seinem Anliegen nur einen qualifizierten Ansprechpartner, der alle relevanten Daten zusammenführt und die Angelegenheiten zu einer Entscheidung bringt. Diese Lösung erfordert eine abgestimmte Strukturierung der organisatorischen und personellen Voraussetzungen.
Die Reha-Träger sollen zukünftig im Rahmen der Teilhabeplanung enger kooperieren und mit dem Leistungsberechtigten gemeinsam einen Plan mit dem Ziel der Teilhabe erstellen. Was sind Erfolgsfaktoren für eine Verwaltung, damit eine Vernetzung mit anderen Reha-Trägern in der Region auch gelingen kann?
Bei einer solchen Vernetzung treffen Verwaltungen mit unterschiedlich ausgeprägten Organisationskulturen aufeinander. Oft ist es die „Macht der Gewohnheit“ bzw. die bürokratische Trägheit, die es problematisch und schwierig machen, Veränderungen in Abläufen von öffentlichen Verwaltungen erfolgreich zu initiieren und umzusetzen. Hier gilt es, eine Balance zwischen den unterschiedlichen Organisationskulturen zu finden und behutsam vorzugehen. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass in zunehmendem Maße weiche Faktoren wie Vertrauen, Zuversicht, Ermutigung, gegenseitige Verbundenheit, Fairness, Akzeptanz und gegenseitige Wertschätzung, also emotionale Komponenten, für den Erfolg eines gemeinsamen Veränderungsprozesses ausschlaggebend sind.
Die Sozialleistungsträger befinden sich in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess: Neben vielen neuen Gesetzen im Bereich Rehabilitation und Gesundheit werden Fusionen durchgeführt, neue Software eingeführt oder andere Umstrukturierungen vorgenommen. Damit die stetigen Veränderungen zum Erfolg werden, kommt es auf die Beschäftigten an. Was kann ich als Unternehmen tun, um meine Mitarbeiter mitzunehmen?
Mitarbeiter reagieren je nach Persönlichkeitstypen recht unterschiedlich auf organisatorische Veränderungen. In der verwaltungswissenschaftlichen Praxis existieren zwei Typen. Zum einen die sog. Gestaltungstypen. Sie sehen Veränderungen als Chance. Sie zeigen sich offen gegenüber dem Neuen und gehen eigeninitiativ und kreativ mit den Veränderungen um. Zugleich sind sie in ihrer Umsetzung allerdings risikofreudiger und werden bei Verzögerungen ungeduldig. Dem gegenüber steht der Vermeidungstyp, der lieber am alten und bewährten festhalten möchte. Er ist nur wenig begeistert von Neurungen, die er mit einer Grundskepsis betrachtet. Er reagiert eher passiv und abwartend. Um alle Mitarbeiter, unabhängig ihres Typs, bei einem Veränderungsprozess mitzunehmen, Akzeptanz zu erzeugen und proaktive Mitarbeit zu generieren, sollten Zwangsmaßnahmen möglichst vermieden werden. Auf der kognitiven Ebene sind die Mitarbeiter durch Schulungsmaßnahmen auf neue Anforderungen vorzubereiten; auf der emotionalen Ebene müssen Vorbehalte abgebaut und die Mitarbeiter für den Veränderungsprozess motiviert werden; und neues Verhalten sollte im kooperativen Miteinander entstehen. Methoden dazu sind in erster Linie die Gewinnung der Führungskräfte, dann die effektive Personalführung unter den neuen Rahmenbedingungen, Schulungen zu den organisatorischen Veränderungen und den neuen Arbeitsabläufen, Einsatz von Mentoren zur Begleitung des Prozesses.