„Es gibt signifikante Unterschiede“
6 Fragen an Friederike Neugebauer
1. Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen in der Kinder- und Jugendreha?
Die größten Herausforderungen sehe ich in der zunehmenden Komplexität der Krankheitsbilder und der damit verbundenen individuellen Therapiebedarfe. Oft haben Kinder und Jugendliche multiple Diagnosen, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und maßgeschneiderte Rehabilitationspläne erfordern. Auch die Form der Inanspruchnahme hat sich in den letzten Jahren stark verändert: Immer mehr Kinder und Jugendliche führen die Rehabilitation gemeinsam mit einer Begleitperson durch, was neue bzw. andere Strukturen, Voraussetzungen, Konzepte und oft auch bauliche Veränderungen in den Kliniken erforderlich macht. Zudem sind die Finanzierung und Kostendeckung ein ständiges Thema, ebenso wie der allgemeine Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Um diesem entgegenzuwirken, ist u. a. die Anerkennung von neuen Berufsgruppen dringend notwendig.
Weitere Herausforderungen stellen die Umsetzung der Digitalisierung und der Einsatz von KI dar sowie die Einführung des neuen Vergütungssystems (der DRV) ab 2026.
2. Gibt es Entwicklungen/ Tendenzen hinsichtlich einer Häufung von Symptomatiken in der Kinder- und Jugendreha (beispielsweise psychische Erkrankungen)?
Ja, es gibt deutliche Tendenzen, insbesondere in Bezug auf psychische Erkrankungen und psychosomatische Beschwerden. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die an Depressionen, Angststörungen und anderen psychischen Problemen leiden, hat signifikant zugenommen. Diese Entwicklung, welche u. a. durch schulischen Leistungsdruck, soziale Medien und familiäre Problematiken begünstigt wird, erfordert spezialisierte Therapieangebote sowie eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Reha.
3. Wie gut aufgestellt ist aus Ihrer Sicht der Reha-Prozess in diesem Bereich (Bedarfsermittlung, Zuständigkeitsklärung, etc.)?
Der Reha-Prozess ist in vielen Bereichen sehr gut strukturiert, aber es gibt auch erheblichen Verbesserungsbedarf zu Beginn und zum Ende des „Ablaufs“. Die Bedarfserkennung erfolgt oft nicht frühzeitig genug, z. T. weil es an Kenntnissen zur Kinder- und Jugendrehabilitation mangelt. Auch die Zuständigkeiten in Bezug auf die Leistungsträger sind oft unklar, was zu Verzögerungen und ineffizienten Abläufen führt. Um für Familien und zuweisende Ärzt*innen eindeutige und niederschwellige Zugangs- und Beantragungswege zu schaffen, wäre eine klar definierte „vorrangige“ Zuständigkeit eines Kostenträgers für die Kinder- und Jugendrehabilitation notwendig. Auch die Inanspruchnahme von und Vermittlung in Nachsorgeleistungen, die der Verstetigung des Rehabilitationserfolgs dienen, sind noch ausbaufähig.
4. Auf welche Besonderheiten muss in der Kinder- und Jugendreha geachtet werden (z. B. Familie, Freizeit, Bildung; Begleitpersonen, Kinderschutz)?
Die Kinder- und Jugendreha unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der Rehabili-tation Erwachsener. Die Besonderheiten umfassen medizinische, psychologische, pädagogische und soziale Aspekte: Kinder und Jugendliche befinden sich in kontinuierlichen Entwicklungsphasen, die körperliche, geistige und emotionale Reifung betreffen. Die Rehabilitationsmaßnahmen müssen diese Entwicklungsstufen berücksichtigen und anpassen. Der aktive Einbezug des Familiensystems (Eltern, Geschwister u .a.) spielt dabei eine entscheidende Rolle, um eine nachhaltige Rehabilitation zu gewährleisten. So erhalten die Begleitpersonen Schulungen und Unterstützung, um die Kinder optimal zu unterstützen und den Rehabilitationsprozess zu Hause fortzuführen.
Um individuelle Behandlungspläne zu erstellen, die alle Aspekte der Gesundheit und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen, arbeitet ein interdisziplinäres Team aus Ärzt*innen, Therapeut*innen, Psycholog*innen und Pädagog*innen zusammen. Die Behandlungselemente werden altersgerecht und integrativ gestaltet, um auch die sozialen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Bildung und schulische Unterstützung sind ebenfalls integrale Bestandteile der Kinder- und Jugendrehabilitation. Die Kliniken halten eigene schulische Einrichtungen vor oder bieten Kooperationen mit lokalen Schulen an, um den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen nicht zu unterbrechen und den Anschluss nach der Reha in der Heimatschule zu gewährleisten.
Weiterhin ist die Rehabilitationsumgebung in den Kliniken kind- und jugendgerecht ausgestaltet, um eine angenehme und sichere Atmosphäre zu schaffen, die das Wohlbefinden und den Reha-Erfolg der Kinder und Jugendlichen fördert. Dabei ist der Kinderschutz ein essenzieller Aspekt, der stets gewährleistet sein muss, um ein sicheres Umfeld für die Kinder zu schaffen. Dies erfordert von den Rehabilitationskliniken für Kinder und Jugendliche spezielle Schutzkonzepte und die entsprechende Schulung der Mitarbeitenden.
Eine weitere Besonderheit stellt die Familienorientierte Rehabilitation (FOR) dar. Diese kommt speziell für Kinder mit angeborenen Herzfehlern, onkologisch und an Mukoviszidose erkrankten Kindern und ihre (Kern-) Familien in Frage. Hier werden zur Sicherung des Rehaerfolges des erkrankten Kindes alle Familienangehörigen und das Familiensystem behandelt.
5. Welche Rolle spielt die Beratung zur Reha für Kinder und Jugendliche für die Familie?
Die Reha-Beratung spielt eine ganz entscheidende Rolle, da sie Familien hilft, den komplexen und z. T. undurchsichtigen Prozess der Antragstellung zu verstehen, den Zugang zur Reha zu erleichtern und eine geeignete Klinik zu finden. Eine fundierte Beratung kann Barrieren abbauen, indem sie über Rechte (z. B. Wunsch- und Wahlrecht), Möglichkeiten und Abläufe informiert. Sie bietet zudem wertvolle emotionale Unterstützung und Orientierungshilfe. Durch eine gute Beratung kann sichergestellt werden, dass die geeignete Klinik ausgewählt wird, eine bedarfsgerechte Reha- Maßnahme frühzeitig eingeleitet und optimal genutzt werden kann. Auch die Erwartungshaltungen an eine Rehabilitationsmaßnahme werden thematisiert; die Kinder, Jugendlichen und ihre Begleitpersonen kommen somit deutlich besser vorbereitet zur Reha.
6. Können Sie kurz die Arbeit des Bündnis Kinder- und Jugendreha skizzieren?
Das Bündnis Kinder- und Jugendreha (BKJR) setzt sich für die Verbesserung der Rahmenbedingungen und der Qualität der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen ein. Wir arbeiten daran, die Interessen der (aktuell 46) bundesweit zusammengeschlossenen Kliniken zu vertreten und auf politischer Ebene Gehör zu finden. Zu den Aufgaben des Bündnisses gehören die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, der Politik und der Leistungsträger für die Kinder- und Jugendrehabilitation als Teil der gesundheitlichen Versorgung. Das BKJR macht zudem auf die spezifischen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Reha aufmerksam, regt die Vernetzung von Fachkräften und Einrichtungen an und unterstützt die Förderung von Forschung und Entwicklung in diesem Bereich. Dabei ist es z. B. eine wichtige Aufgabe, gegenüber der Politik und den Kostenträgern zu verdeutlichen, dass sich die Kinder- und Jugendreha signifikant von der Reha für Erwachsene unterscheidet, z. B. auch bei den Personalund Qualitätsanforderungen.
Im Internet stellt das BKJR ausführliche Informationen zu den Rehakliniken für Kinder und Jugendliche in Deutschland, zu Antragsformularen sowie Voraussetzungen, Indikationen und zum Weg in die Reha zur Verfügung und bietet auch persönliche Beratung an. Durch Informationskampagnen, Fortbildungen und Fachtagungen sowie die Beratungsleistungen trägt das Bündnis dazu bei, die Rehabilitationsangebote kontinuierlich zu verbessern und den Zugang zu diesen Leistungen zu erleichtern.
Bündnis Kinder- und Jugendreha e. V. (BKJR) www.kinder-und-jugendreha-im-netz.de |