„Mein Ziel ist es, Inklusion in allen Lebensbereichen zu realisieren.“

4 Fragen an Annetraud Grote

1. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein?

Ich denke, die Zahlen sprechen eine ganz eigene, sehr deutliche Sprache: Im Durchschnitt des Jahres 2022 waren deutschlandweit 164.000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos. Dies sind fünf Prozent bzw. 9.000 weniger Menschen im Vergleich zum Vorjahr.
Darüber könnte man sich zunächst freuen, wenn man nicht wüsste, dass bei nichtschwerbehinderten Menschen mit ca. acht Prozent ein stärkerer Rückgang der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen ist. Dies ist umso erschreckender, da arbeitssuchende Menschen mit einer Schwerbehinderung gut qualifiziert sind; anteilig finden sich bei schwerbehinderten arbeitslosen Menschen sogar mehr Personen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung als bei nicht-schwerbehinderten arbeitslosen Menschen.
Besonders prekär wird die Lage dadurch, dass es schwerbehinderten arbeitslosen Menschen trotzdem seltener gelingt, eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt aufzunehmen, als nicht-schwerbehinderten Menschen. Hinzu kommt, dass die Dauer der Arbeitslosigkeit und der Anteil der Langzeitarbeitslosen bei schwerbehinderten Menschen leider deutlich höher ist.
Andererseits mussten im Jahr 2021 106.781 von 174.919 beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern zumindest eine anteilige Ausgleichsabgabe entrichten.
Wiederum 45.318 Arbeitgeber – und damit mehr als jeder vierte beschäftigungspflichtige Arbeitgeber – beschäftigte zu dem Zeitpunkt keine einzige Person mit Schwerbehinderung (Bundesagentur für Arbeit, 2023). Von insgesamt 120.8842 Pflichtarbeitsplätzen blieben mithin 308.441 Arbeitsplätze im Jahr 2021 unbesetzt (Bundesagentur für Arbeit, 2023).
Aus dem Menschenrecht auf Arbeit und Beschäftigung auch für Menschen mit Behinderungen (Artikel 27 UN-BRK) folgt das gleiche Recht aller Menschen, eine realistische Möglichkeit zu haben, ihren Lebensunterhalt durch eine frei gewählte Tätigkeit zu verdienen. Der Arbeitsmarkt und das Arbeitsumfeld sollten für Menschen mit Behinderungen offen, inklusiv und gleichermaßen zugänglich sein. Die Schaffung eines solchen offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkts schließt ausdrücklich auch die Berufsausbildung mit ein. Davon sind wir aktuell noch weit entfernt, wovon aktuell die Abschließenden Bemerkungen zur 2. bzw. 3. Staatenprüfung Deutschlands zum Recht auf Arbeit und Beschäftigung im September 2023 zeugen.

2. Welchen Herausforderungen müssen sich Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen in Zeiten von Fachkräftemangel und Inklusion im Betrieb stellen und was sind dabei Erfolgsfaktoren?

Unternehmen, aber auch der öffentliche Dienst, suchen aufgrund des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels händeringend nach motivierten Mitarbeitenden. Dennoch werden Menschen mit Behinderungen im Einstellungsprozess aufgrund ihrer behinderungsbedingten Individualität oftmals nicht berücksichtigt, obwohl sie häufig geeignete Qualifikationen aufweisen.
Daraus folgt für mich die auch staatliche und gesellschaftliche Verpflichtung, Arbeitgebenden den Wert von Diversität der Belegschaft deutlich zu machen. Das Bewusstsein für die Leistungsfähigkeit behinderter Menschen und die Erkenntnis, dass auch Arbeitgebende selbst erheblich von der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung profitieren, muss geschärft werden. Die Inklusion behinderter Menschen fördert die interne Zusammenarbeit und trägt so wesentlich zum Erfolg sowohl der Arbeitgebenden als auch der Beschäftigten bei. Dabei ist erfolgreiche Inklusion keine Frage der Größe des Betriebs oder der Art der Branche. Manchmal kann bereits durch kleine Veränderungen viel erreicht werden.
Aus meiner Sicht bedarf es einer inklusiven Beschäftigungsstrategie, dazu zählt z. B. neben der Offenheit der Unternehmens- oder Dienststellenleitung eine gezielte Rekrutierung von Menschen mit Behinderungen bei Neueinstellungen und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Schwerbehindertenvertretung und der oder dem Inklusionsbeauftragten. Die sehr guten Erfahrungen, die ich im Paul-Ehrlich-Institut sammeln durfte, sollten als Best-Practice Eingang in eine Kultur- bzw. Beschäftigungsstrategie finden. Inklusion sollte Bestandteil der Unternehmenskultur werden. Ich empfehle: „einfach machen“ und im Zusammenspiel zwischen Arbeitgebenden, Inklusionsbeauftragten, Schwerbehindertenvertretungen, Sozialversicherungsträgern, Integrationsämtern und Menschen mit Behinderungen als „Experten der eigenen Sache“ runde Tische in den Organisationseinheiten zu aktivieren, um individuelle Strategien zu entwickeln.

3. Wie kann ein inklusiver Arbeitsmarkt erreicht werden? Und wie sehen Sie die zukünftige Rolle der Werkstätten für behinderte Menschen?

Für mich bedeutet Inklusion in den Arbeitsmarkt auch eine Managementaufgabe der Politik. Wertvolle Ressourcen von Menschen mit Behinderungen darf man nicht liegen lassen. Für die Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarkts muss Deutschland sein Berufsbildungssystem auf den Prüfstand stellen und erforderlichenfalls entsprechend umgestalten. Menschen mit Behinderungen müssen den gleichberechtigten Zugang zum gesamten Angebot der Ausbildungsberufe erhalten. Außerdem muss die Zugänglichkeit von Ausbildungs- und Arbeitsstätten sichergestellt werden. Neben Bund und Ländern sollten hierauf auch die Bundesagentur für Arbeit, Integrationsämter, Unternehmen, Fachverbände, Kammern gemeinsam hinwirken.
Die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen fördern als Sonderwelt sozialpolitisch gesehen zunächst nicht die von mir gewünschte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt, anderseits bieten sie Schutzräume und sind für viele dort Arbeitende Orte der Wertschätzung und Gemeinschaft. Werkstätten bzw. deren Rechtsträger sind sozial unternehmerisch tätig und sollen in diesem Zusammenhang Teilhabe am Arbeitsleben verwirklichen. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention nach einem inklusiven Arbeitsmarkt und nach mehr Selbstbestimmung in der Gesellschaft ist zumindest eine Novellierung des Entgeltsystems der Werkstätten in seiner jetzigen rechtlichen Form dringend erforderlich. Die Durchlässigkeit der Werkstätten muss gestärkt und gefördert werden. In Niedersachsen z. B. ist das „Budget für Ausbildung/Budget für Arbeit“, eine Leistung der Eingliederungsbeihilfe, recht erfolgreich.

4. Wo sehen Sie Ihre Arbeitsschwerpunkte für die nächsten Jahre?

Mein Ziel ist es, Inklusion in allen Lebensbereichen zu realisieren. Ich möchte mich stark machen für noch mehr Inklusion und Teilhabe in Niedersachsen.
Bereits von Beginn an müssen Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam aufwachsen, zusammen zur Schule gehen, Ausbildungen oder Studiengänge gemeinsam absolvieren, damit auch später das gemeinsame Arbeiten selbstverständlich wird und bleibt.
In erster Linie möchte ich für alle Akteurinnen und Akteure, die sich für Inklusion stark machen, Gesprächspartnerin sein.
In meiner Rolle als niedersächsische Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen bin ich ein Sprachrohr für die Menschen mit Behinderungen. Mir ist es ein besonderes Anliegen, mich auch für die Menschen mit Behinderungen einzusetzen, die in kleineren Gruppen oder Verbänden engagiert sind und keine große Lobby haben.
Persönlich ist mir sehr wichtig, dass wir uns endlich entfernen von dem defizitorientierten Bild von Behinderung, hin zu einem Bild der Bereicherung für die Gesellschaft und der Selbstbestimmung. Ich möchte Menschen mit Behinderungen mit meinen Möglichkeiten und meiner Gestaltungskraft unterstützen.